Brief an Herrn Lothar

In M. am 11ten November 1595

Guter und lieber Herr Lothar, ich hoffe Ihr ergötzt Euch an den Schilderungen unserer Abenteuer, da wir zu häufig unseren Standort wechseln, ist es vielleicht eine gute Idee wenn Ihr etwaige Briefe mit Neuigkeiten von Euch an unseren Vetter Herrn Vincent in Paris sendet.
Doch nun zum Schloß M. und der hiesigen Gegend.
Die normannische Landschaft protzt geradezu mit ihrer Schönheit; das Laub der Bäume nimmt strahlende Farben an, in denen auch die Wege leuchten. Heute hatten wir wunderschönen Nebel, der sich am frühen Nachmittag auflöste und Sonnenschein Platz machte, um später als zarte Nebelschleier, die elfenhaft über die Felder geisterten, zurückzukehren.

Als wir im Sonnenschein spazierengingen, stießen wir auf seltsame Höhlen, die aussahen, als seien sie von Wolpertingern angelegt und Herr Rudi steckte in jede seine vorwitzige Nase. Jetzt steht er wie ein Erdmännchen am Fenster und schaut hinaus, voller Sehnsucht nach einer Jagd.

Die einheimische Bevölkerung scheint das Jagen zu lieben, auch hat der Baron dieses Schloß schon des öfteren als Stützpunkt für Jagden genutzt. Davon zeugen zahlreiche ausgestopfte Vögel, die ich allerdings eher für geschmacklos halte. Er besitzt einige Flinten und Büchsen, die er in der Eingangshalle stolz zur Schau stellt.
Er selbst ist ein waschechter rothaariger Normanne. Wenn man ihn betrachtet, kann man sich gut vorstellen, wie jenes kriegerische Völkchen damals dieses rauhe Land eroberte.
Die Baroneße ist eine würdige Matrone. Ihre Familie ist von altem ungarischen Blute, dementsprechend ist sie recht temperamentvoll. Sie unterhält uns alle mit Geschichten über die Region und über den Bau des Schloßes.

Morgen wollen wir jedoch weiterfahren und ein berühmtes Arboretum in der Nähe besuchen, welches dem Herzog D’Harcourt gehört, der mit der hiesigen Familie und Seiner Hoheit Henri IV. befreundet ist. Wenn wir bei ihm einen guten Eindruck machen, führt er uns womöglich noch bei Hofe ein, was natürlich der Höhepunkt unserer Reise wäre.

Die Baroneße hat uns zahlreiche Geistergeschichten erzählt, bis wir schließlich nicht mehr wußten, wann sie noch spaßte und wann es ihr ernst war. Wir erwarten also mit Spannung die Nacht und werden gewißlich nicht sehr gut einschlafen. Die Bediensteten verlaßen über Nacht das Schloß und schlafen in einem Nebengebäude, welches ein paar hundert Klafter entfernt auf halbem Wege zur reizenden Ortschaft mit den schön bemalten Fachwerkhäusern, steht.

Die hiesige Köchin Mme Heutte stammt aus dem nahen Flandern, worüber wir ganz glücklich sind, so kocht sie nämlich nicht typisch normannisch. Normannisches Eßen enthält Äpfel in allem, Äpfel, Apfelwein und Speck (falls vorhanden). Am Anfang ist solch Eßen intereßant , kann aber bei häufigem Genuße Überdruß hervorrufen. Hirsebrei mit Äpfeln ist schon in Ordnung aber an Suppe mit Äpfeln und Speck kann ich mich nicht gewöhnen.
Die flämische Küche ist etwas abwechslungsreicher. Wir werden mit Wild, Wurst, Schinken, Geflügel, Carbonade Flamande (in Bier gesottenes Fleisch), Pommes de Terre (eine exotische moderne Knolle aus Flandern), Asperges (ein exotisches modernes Gemüse aus Flandern) und Birnen verwöhnt.

Außer uns ist der berühmte italienische Sänger Lucidio Portavati zu Besuch. Selbiger scheint mit dem Baron und seiner Frau befreundet zu sein. Sie haben ihn wohl auf einer Reise nach Verona kennengelernt.
Nun will ich aber doch schlafen gehen…

Karikatur von Farinelli (und Händel), unbekannter Autor vor 1750, Public Domain
Karikatur von Farinelli (und Händel), unbekannter Autor vor 1750, Public Domain

In M. am 12ten November 1595

Aus dem ruhigen zu Bette gehen ist leider nichts geworden. Ich hatte mich gerade zur Ruhe gelegt, da hörte ich das Getrampel vieler eilender Schritte. Ich sprang also aus dem Bette, warf mir etwas über und eilte den Schritten hinterher. Draußen vor dem Schloße konnte ich erkennen, daß Herr Rudi, Herr Beau und Herr Phex jemanden oder etwas verfolgten. Wir hatten alle keine Laterne bei uns, rannten vielmehr in die Dunkelheit des Vorhofes, der freilich von einem abnehmenden Mond ein wenig erhellt wurde. Es war trotzdem ziemlich gefährlich, im Dunkeln über die Brücke zum Vorhof zu laufen. Wir rannten bis hinunter zum Gesindehaus, deßen Tür sich direkt vor mir öffnete. die Köchin trat heraus und fiel stante pede wie eine adlige Dame in Ohnmacht und in meine Arme. Ich versichere Dir, sie war nicht leicht. So rief ich unseren drei Freunden zu, sie mögen stehenbleiben und mir zu Hilfe eilen, was jene auch taten. Als die Köchin wieder bei Sinnen und beruhigt war, traten wir den Rückzug an.

Herr Markus erwartete uns vor dem Schloße, mit einer Laterne und vorwurfsvollem Blicke. Was uns denn einfiele mitten in der Nacht durch die stockfinstere Gegend zu rennen, fragte er, er habe sich schon Sorgen gemacht.
Unsere drei Freunde berichteteten nun, sie hätten draußen das Knacken von Zweigen gehört und das Tappen von Schritten. Sie hätten also aus ihrem Fenster gesehen, welches nach Westen geht, somit in Richtung Vorhof. Unter den Kastanienbäumen sei eine Gestalt sichtbar gewesen, die einen übergroßen weißen Kopf zu haben schien. Anstatt sich furchtsam im Bette zu verkriechen, habe sie der Jagdtrieb überkommen und sie wollten die Gestalt fangen. Herr Markus schaute darob noch beleidigter drein und meinte er sei nicht furchtsam gewesen, sondern habe eine Laterne gegriffen, da er nicht in den Burggraben zu fallen beabsichtige. Ob wir denn die Gestalt gefangen hätten? Wir schüttelten betreten unsere Köpfe, wandten aber ein das wir immerhin die Köchin gerettet hätten. Herr Markus ignorierte unser Heldentum und schickte uns zurück ins Bette.

Beim Frühstück stellten wir fest, daß weder der Baron oder seine Frau, noch der Sänger irgendetwas von den nächtlichen Geschehnißen bemerkt hatten. Wir erzählten unsere Erlebniße der Nacht dennoch, um zu verhindern daß man uns für Wüstlinge hielt, die sich an Köchinnen vergreifen wollten.

Die Baroneße war ganz enthusiasmiert. Sie nahm an wir hätten den Geist gesehen. Sie beschrieb ihn als einen Mann mit einem Hut, der drei Ecken habe. Das war nicht wirklich eine gute Beschreibung. Es sei der Hufschmied des Vaters des Barons, der von einem fanatischen Katholiken wegen seines Protestantismus erschlagen worden sei. Der Baron lehnte sich zurück und rollte zweifelnd mit den Augen, was die Baroneße jedoch nicht sehen konnte. Er lud uns ein, noch ein paar Tage zu verweilen. Vielleicht würde es uns ja gelingen das Rätsel zu lösen. Auf Drängen von Herrn Rudi und Herrn Phex nahmen wir das Angebot an. Dann sprachen wir über die Religionsstreitigkeiten in Frankreich.

Der Tag verlief recht ereignislos, obwohl wir immerhin den Échevin (Bürgermeister) des Ortes kennenlernten, einen kleinen runzligen Mann von biblischem Alter. Am Abend gab Herr Portavati ein paar Lieder aus italienischen Opern zum Besten, auf dem Cembalo leidlich begleitet vom Baron. Die Baroneße applaudierte wie toll und war verzückt über die Darbietung. Mir wären ein paar zünftige Sauflieder lieber gewesen, ihr wißt ja, was für ein Banause ich bin.
Mal sehen, ob in dieser Nacht wieder etwas geschieht.

Bildnis Karl V. im Profil
Bildnis Karl V. im Profil mit Barett, von Hieronymus Hopfer (um 1500 Augsburg – 1563 Nürnberg), Public Domain

In B. am Abend des 13ten Novembers 1595.

Ich fürchte, Ihr werdet kaum glauben, was seither alles paßiert ist.
In der Nacht hub ein Sturm an zu blasen, so daß das Schloß bis in die Grundfesten erzitterte und sämtliche Schieferplatten auf dem Dach um die Wette klapperten. Trotzdem schlief ich tief und fest bis mich um etwa drei Uhr ein Geschrei weckte. Ich warf mir etwas über und eilte hinaus. Vor dem Südeingang kämpften zwei Gestalten im Dunkeln. Ich erkannte nun auch die Stimme desjenigen, der Zeter und Mordio schrie, es war Herr Phex. Als nächstes stolperte ich über das Licht welches Herr Phex im Kampfe fallen gelaßen hatte. Ich fluchte und es ist anzunehmen, daß die Gestalt, mit der Herr Phex kämpfte, mich so gewahr wurde und den Moment nutzte, um Fersengeld zu geben. Sie riß sich los und eilte in den Schutz und Schatten der Bäume.
Ich kümmerte mich zuerst um Herrn Phex, der am Kinn blutete. Wir gingen ins Schloß zurück, wo inzwischen alle erwacht und zusammengelaufen waren. Herr Phex war bleich wie der Tod und sein langes Gesicht wirkte noch schmaler. Ich wusch ihm das Kinn eigenhändig mit Wein und zwei lange Kratzer kamen zum Vorschein.
Nachdem Herr Phex verarztet war, drängten wir ihn, zu erzählen was vorgefallen war. Er aber blieb vorerst verschloßen wie eine normannische Auster, verlangte nach einem Calvados (dem hiesigen Apfelschnaps) und meinte, wir sollten lieber den Morgen abwarten und noch etwas schlafen.

Alle gingen zu Bett, nur ich nicht. Ich tat, als würde ich zu Bett gehen, nahm mir jedoch ein Licht und untersuchte den Schauplatz des Kampfes. Dort fand ich eine lange Leiter auf dem Boden und eine Bratengabel, wahrscheinlich die Waffe des schattengleichen Fremden. Die Leiter ließ ich liegen, die Gabel nahm ich mit.

Am Morgen verlangte ich, daß wegen der Geschehniße der vergangenen Nacht der Commißaire au Chatelet (so heißen die hiesigen Wachtmeister) gerufen würde. In etwa anderthalb Stunden kann ein Reiter in leichtem Trab die nächste größere Stadt erreichen. Dies stieß auf erstaunlich wenig Gegenliebe, selbst das Opfer des Angriffs wehrte sich gegen diese Maßnahme. Ich setzte mich aber durch und man schickte einen Boten los. Herr Markus und der italienische Sänger schienen sehr verwundert zu sein, sie sagten, von dem ganzen Geschehen nichts mitbekommen zu haben. Ihr wißt ja, Herr Markus schläft so tief, daß man ihn im Schlaf davontragen könnte.
Schon zwei Stunden später trafen zwei Commißaire ein, die auf mich einen tiefen Eindruck machten. Sie sagten, sie seien Monsieur Hercule und Monsieur Copain und würden den Fall ganz gewiß schnell lösen. Monsieur Hercule ist ein beleibter junger Mann, der jedoch mehr Muskeln als Fett zu haben scheint, also eine recht stattliche Erscheinung. Seine Augen funkeln kühn und seine ganze Haltung ist die eines vornehmen Herrn. Monsieur Copain dagegen ist klein und sehnig, er ist freundlich und charmant und verstrickte uns sogleich in intereßante Gespräche, die gar nichts mit dem Fall zu tun hatten. Allerdings horchte er uns so geschickt aus und erfuhr recht viel über unsere bunte Reisegesellschaft. Dann verlangten die Commißaire mit Herrn Phex alleine zu sprechen. Danach befragten sie uns jeden einzeln zu den Geschehnißen der vergangenen Nacht. Ich erzählte ihnen von der Leiter, die inzwischen nicht mehr auf dem Hof lag, und zeigte ihnen die Bratengabel, die sie als Beweisstück einsteckten. Dann befragten sie doch tatsächlich das Gesinde.

Ich fragte Herrn Phex was denn nun paßiert sei und er erzählte mit leidender Miene, daß er ein tête-à-tête mit der Zofe der Baroneße gehabt habe. Er habe glücklicherweise an der Südseite des Schloßes stehend eine Leiter vorgefunden, sich nichts dabei gedacht und die Leiter flugs zum Gesindehaus getragen. Dort fand er Einlaß am Fenster der Zofe, die, wie er mir versicherte, wirklich eine ganz reizende Person sei, die er jetzt um ihre Ehre gebracht habe.
Er fing fast an zu weinen, ließ sich aber soweit beruhigen, daß er weitererzählen konnte. Ich habe Euch gewiß schon berichtet, daß er ein sehr gut aussehender junger Mann ist und deshalb bei den Damen sehr beliebt. Er strahlt außerdem Vornehmheit und Würde aus, so daß jedermann gleich Vertrauen zu ihm faßt. Leider hatte er in Herzensdingen bisher wenig Glück, weil er sich in verheiratete Frauen zu verlieben pflegt und natürlich zu ehrenhaft ist, um seine Gefühle jemals zu zeigen.
Die Zofe jedoch sei unverheiratet und er sei ja auch bereit die Konsequenzen seines Handelns zu tragen.
Zurück von seinem amourösen Ausflug wollte er die Leiter wieder dahin stellen, wo er sie vorgefunden habe. Als ihn plötzlich, hinterrücks, jemand oder etwas angriff.
Der Kopf des Angreifers sei weiß und übergroß gewesen, so daß es eigentlich kein normaler Mensch gewesen sein könne.
Nach diesen Geständnißen marschierte unsere Reisegesellschaft hinüber zum Gesindehaus.

Die Commissaire waren schon fertig mit der Befragung und Herr Phex erklärte ihnen und der Zofe, er wolle seinen Fehler wieder gutmachen und das Fräulein heiraten oder ihr Geld geben, falls sie ihn nicht wolle.
Zu unserer Überraschung stellte es sich heraus, daß der Échevin ihr Vater war.

Die Commißaire begaben sich zur Wirtschaft des Ortes, wo wir sie aufsuchen sollten wenn wir die Herzensangelegenheit geregelt hätten.
Wir gingen daraufhin mit dem Mädchen zu ihrem Vater. Der sagte, daß er sich zwar geehrt fühle, das Mädchen aber schon verlobt sei und man auch noch den Verlobten anhören müße.
Der Verlobte wurde geholt und besprach sich mit dem Mädchen und ihrem Vater. Wir stellten zu unserer Verblüffung fest, daß der Verlobte ganz zufrieden aussah und mit dem Mädchen Händchen hielt. Der Vater bedankte sich bei Herrn Phex dafür, daß der seine Tochter vor einem Angreifer beschützt habe. Wir versuchten neutrale Mienen zu machen und nicht verwundert zu gucken. Weiterhin seien sich die Verlobten einig und wollten schnell heiraten. Herr Phex könne ja, wenn er wolle, einen kleinen finanziellen Beitrag zur Hochzeit leisten.
Herr Phex zahlte mit Duldermiene, es war deutlich zu sehen, daß er nicht wußte, ob er lachen oder weinen solle. Immerhin ist er von altem flandrischen Adel, wenn er auch nur der jüngste Sohn seiner Eltern ist, sollte man annehmen, er sei eine beßere Partie als ein Bauernbursche.

Wir gingen daraufhin in die Wirtschaft und besprachen uns mit den Commißaires. Sie sagten, es sei notwendig, daß wir das Schloß noch heute verließen, denn sonst würde sich der Geist gewiß nicht zeigen. Monsieur Copain bot uns an diese Nacht bei seiner Familie zu verbringen. Er und Monsieur Hercule wollten sich während der Nacht auf die Lauer legen und den Geist dingfest machen.
Monsieur Copain gab uns eine Nachricht an seine Eltern mit, wir gingen zum Schloß, packten unsere Siebensachen und erklärten, wir hätten Angst vor dem Geist und würden uns sofort auf den Weg nach Harcourt machen.
Dann ging es stracks in die Stadt, wo wir von Monsieur Copains Familie sehr herzlich aufgenommen wurden.

Gabel aus Eisen und Knochen, 16. Jahrhundert, Museum Laon (Aisne, Picardie, Frankreich), Public Domain
Gabel aus Eisen und Knochen, 16. Jahrhundert, Museum Laon (Aisne, Picardie, Frankreich), Public Domain

In B. am 14ten November 1595

Zum Frühstück begrüßte uns Monsieur Copain, das Haar noch feucht vom in der Nacht gefallenen typisch normannischen Bindfadenregen. Er erklärte sarkastisch, der Regen habe den Geist wohl vertrieben und bat uns, des weiteren zu verweilen. Wir wollten die Gastfreundschaft seiner Familie nicht mißbrauchen und zogen in das Hotel Le Vieux Manoir. Die Zimmer dort sind etwas klein aber die Betten scheinen sauber zu sein.
Monsieur Hercule’s Neffe war so freundlich, uns die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu zeigen, die Kirche Notre-Dame de la Couture, die Kapelle Gauthier, nach der die Bauernbanden in den Religionskriegen benannt waren, das Spital und einige Ruinen. Hier scheint eine Menge los gewesen zu sein in den letzten Dekaden und ich bin sehr froh, nicht dabei gewesen zu sein. Die halbe Stadt wurde abgebrannt und geplündert. Durch die vielen neuen Eindrücke erholte sich Herr Phex von der denkwürdigen Herzensangelegenheit.

Morgen früh werde ich dir diesen Brief schicken, der Regen kann durchaus ein paar Tage anhalten und wenn wir auf die Aufklärung des Geheimnißes warten müßen, warum nicht auch Ihr.
Mit der Versicherung meiner treuesten Freundschaft zu Euch guter und lieber Herr Lothar, verbleibe ich Euer
Herr Konstantin

In B. am 16ten November 1595

Ich hoffe Ihr wart nicht zu sehr gespannt, guter und lieber Herr Lothar. Gestern Abend verschwand der Regen wider Erwarten so plötzlich wie er gekommen war.
Herr Copain und Herr Hercule zogen sogleich los nach M. und legten sich dort heimlich auf die Lauer. Gegen Mitternacht gewahrten sie eine Gestalt, die eine Leiter zur Südseite des Schloßes trug und dort an die Mauer legte. Die Gestalt verschwand durch ein Fenster.
Die Commißaire wagten sich nun näher, um die Gestalt beim Verlaßen des Schloßes unter Wahrung größtmöglicher Diskretion packen zu können.

Siehe da, es war der italienische Sänger, der nach einiger Zeit wieder die Leiter herunterkam. Er trug eine große weiße Maske auf dem Kopf, die ihm jenes geisterhafte unwirkliche Aussehen verlieh. Die Commißaire stellten ihn zur Rede und er gestand sogleich alles, bat sie jedoch inständig dem Baron nichts zu verraten. Der Sänger hatte in sämtlichen regenfreien Nächten der Baroneße Besuche erstattet. Die Bratengabel habe er als Waffe bei sich getragen, um sich zu verteidigen, in anderen Nächten habe sie auch dazu gedient Eßen aus der Küche mitzunehmen. Ein sehr praktisches, vielfach einsetzbares Utensil. Die Commißaire hatten ein Einsehen, denn wenn der Baron von den Eskapaden erführe, konnte das leicht den Tod des Sängers bedeuten. Sie verlangten aber von ihm, er solle am Morgen abreisen und sich bei Herrn Phex für die Attacke mit der Gabel entschuldigen.
Also kam er heute Morgen mit einer Kutsche bei unserem Hotel an. Seine Nerven waren ganz zerstört. Er zitterte, jammerte und bat Herrn Phex um Verzeihung. Des Weiteren gab er ihm Geld als Entschädigung, was Herrn Phexens monetären Verlust in der Affaire mit der Zofe ausglich. Herr Phex sagte dem Sänger, bevor jener Gelegenheit bekam, etwa zu singen, ihm sei verziehen und schob ihn sanft aber bestimmt zur Türe hinaus.

Calvados Destilliergerät (Saint-Jean-des-Champs, Normandie), von Ji-Elle, Public Domain
Calvados Destilliergerät (Saint-Jean-des-Champs, Normandie), von Ji-Elle, Public Domain

In B. am Morgen des 17ten Novembers 1595

Wir feierten den Ausgang dieses Abenteuers in einer hiesigen Wirtschaft. Calvados floß in Strömen und das heutige Erwachen glich dementsprechend einem Nachtmahr. Ich glaube nicht, daß ich heute einen vernünftigen Gedanken zu Papier bringen werde. Wir haben alle geschworen, dem Calvados fürderhin zu entsagen. Heute werden wir endlich nach Harcourt fahren, müßen uns jedoch noch von unseren neugewonnenen Freunden verabschieden.

Wir haben Glück, daß dieser Winter bisher so mild ist, und nicht so frostig wie der letzte Winter. Wir sollten das Glück jedoch nicht herausfordern und im Dezember Paris erreichen. Ich freue mich schon darauf, das Christfeste mit Herrn Vincent zu verbringen, obgleich es noch schöner wäre, wenn Ihr bei uns sein könntet, guter und lieber Herr Lothar, deßen wahrer Freund ich das Glück habe nun und für immer sein zu dürfen.
Herr Konstantin

Die “ß” kommen mit Absicht so häufig vor, fürs Flair.
Rudi und Phex sind noch meine Hunde, Beau ist leider inzwischen an Krebs verstorben.
Dies war eine Geschichte die ich für Lothar in Sütterlin vor ein paar Jahren geschrieben habe.
Hercule und Copain (frz. Kumpel) waren zwei Schafböcke, die hier gelebt haben.

Die Religionskriege in dieser Region setzten sich bis 1588 fort, die Pest folgte ihnen 1596.

Mehr zu dem Schloss und der Geschichte seiner Bewohner findet man in den Artikeln: Das Weiße Schloss – die Geschichte der Schlossbesitzer und Das Weiße Schloss – die Gebäude.

Beruht auf einem Inhalt unter stanzebla.wordpress.com.

3 thoughts on “Brief an Herrn Lothar

  1. […] an. Da könnte ja jeder kommen… Ich liebe dich natürlich. Das ist doch normal. Ich lese die Flaschenpost, Zeitung der Inselbewohner. Bisher hatte ich nur noch nie einen Leserbrief geschrieben. War ja vielleicht auch […]

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  2. […] Das Schloss und seine Bewohner habe ich bald nach meiner Ankunft zu einer kleinen Geschichte verwurstet, in der meine Hunde die menschliche Hauptrolle spielen: Brief an Herrn Lothar […]

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  3. […] Das Schloss und seine Bewohner habe ich bald nach meiner Ankunft zu einer kleinen Geschichte verwurstet, in der meine Hunde die menschliche Hauptrolle spielen: Brief an Herrn Lothar […]

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