Leben mit Marga 10

Abstürze

Jean-Pierre und Marga gingen mit Argentin in Marseille essen. In einem teuren Restaurant. Denn Argentin bezahlte das Essen, aber nicht die Getränke. Marga bestellte Mineralwasser. Aber Jean-Pierre löckte wider den Stachel und bestellte sich einen Whisky. Während Argentin Marga ermutigte, Unsinn über das Barock zu reden, bestellte sich Jean-Pierre noch einen Whisky. Irgendwann fing Jean-Pierre an, auf Argentin einzureden … über die Frauen und über Politik. Argentin versuchte zuerst, höflich zu antworten. Da Marga gleichzeitig auf ihn einredete, ergab sich aber ein Problem. Beiden, Marga und Jean-Pierre, schien nichts daran zu liegen, dass Argentin etwas sagte. Es reichte, wenn er Zustimmung brummte und nickte, aber das wollten beide von ihm haben. Technisch schwierig bis unmöglich, außer für siamesische Zwillinge. Argentin hatte nur einen Mund und daher war er fast froh, als Jean-Pierres Kopf plötzlich nach vorne sackte und mit der Stirn voran in die weiße Austernsuppe fiel. Nun war Ruhe. „Butter bei die Austern“, murmelte Argentin ein wenig überrascht. Eine freie Übersetzung des französischen Sprichworts „Quand la soupe est faite, il faut souper“, wörtlich: wenn die Suppe fertig ist, muss man essen. Marga wirkte nicht amüsiert. Sie winkte einen Kellner herbei, der ihren Mann aus der Suppe zog. Dann flößte Marga Jean-Pierre einen Espresso ein. Das Ehepaar musste ein Taxi nehmen, Marga konnte nicht Auto fahren. Sie schliefen in der Wohnung über dem Laden. Am Morgen erklärte Marga, dass Jean-Pierre nie wieder Alkohol trinken würde, da er offensichtlich ein gesundheitliches Problem habe. Dann erläuterte sie ihm, dass seine Familie, die sie noch nie gesehen hatte, durchweg aus Verrückten bestand. Jean-Pierre wehrte sich nicht. Er hatte Kopfschmerzen und Durst. Leitungswasser war immerhin ausreichend vorhanden.

Malheur assiette
Das Unglück vereint uns. Ein Revolutionsteller. Eigenes Foto.

Jean-Pierre hatte wirklich ein Problem mit Alkohol. Seine Eltern waren Bretonen. Den Bretonen, Iren und ganz allgemein den Kelten sagt man nach, dass die Frauen in den Familien das Sagen hatten und daher die Männer oft zum Alkohol griffen. In seiner Jugend hatte Jean-Pierre ziemlich viel getrunken und Experimente mit Drogen gemacht. Das war aufregend gewesen. Dabei hatte er daheim gar keine Frau gehabt. Das war dann wohl doch nicht immer nötig. Jetzt gerade fand er aber, dass eine herrschsüchtige Frau ganz klar vorhanden war und das erschien ihm ein ausreichender Grund, eben doch zu trinken, wenn es sich so ergab. Was wollte sie denn noch von ihm? Er fuhr sie in der Gegend herum, kochte, machte das Licht an und aus, fütterte die Reinkarnationen und ging mit ihnen spazieren. Den ganzen Tag musste er sich anhören, wie Marga über Gott und die Welt schimpfte und da hatte er es doch wohl verdient, ab und zu ein Gläschen zu trinken. Jean-Pierre sagte aber nichts, also dachte Marga, dass er grundsätzlich ihrer Meinung war.

Sobald Jean-Pierre halbwegs wieder hergestellt war, fuhren sie zum Schloss zurück. Beim nächsten Abendessen mit den Schlosswächtern trank Jean-Pierre Wein. Marga merkte es zuerst gar nicht. Sie redete zu der Wächterin über „Frauenthemen“, erlaubte Farben von Blumen, wie man mit Kreativität Geld verdienen kann, Hundereinkarnationen, Engel gegen Wasserschaden, Gesundheitsprobleme, die angeblich durch bessere Einsicht hätten vermieden werden können. Marga starrte dabei hasserfüllt auf die Hände der Wächterin und zeigte dann ihre eigenen Hände zum Beweis, dass Kälte Gicht verursacht und die Erkrankung daher durch Handschuhe vermieden werden kann. Daher solle die Wächterin immer Handschuhe tragen, schloss Marga.

Während des Essens tranken Marga und Jean-Pierre ein Glas Weißwein nach dem anderen. Es gab zum Hauptgang gebratenes Huhn, da Marga nur weißes Fleisch essen mochte, ohne Knoblauch natürlich, aber dafür mit viel Pfeffer, „australischem Pfeffer“, wie sie ihn scherzhaft nannte. Marga durfte soviel trinken, wie sie wollte, sie benahm sich ja nicht daneben. Jean-Pierre hingegen dachte sich, dass sie nicht bemerken würde, wenn er trank, weil sie selbst betrunken war. Diesmal vermied er es, in die Suppe zu fallen. Marga hatte aber wohl doch etwas bemerkt, denn kaum waren sie nach dem Abendessen zurück im Schloss, fing sie an, zu zetern und zu schimpfen. Da Jean-Pierre betrunken war, schimpfte er zurück und schließlich schrien sich die beiden so laut an, dass man es noch draußen hören konnte.

Am Morgen ging Marga in gemessenem Schritt zum Wächterhäuschen. In ihrer zarten rechten Hand mit den krummen Fingern trug sie einen kleinen Plastikbeutel mit Hundehaaren, die sie mühsam zusammengebürstet hatte. Sie wollte der Wächterin beweisen, was für eine faule Putzfrau sie doch war (die Wächterin, nicht etwa Marga). Die Wächterin verstand erst nicht, was Marga von ihr wollte, dann, als sie begriff, lief sie rot an und hätte Marga wohl hinausgeworfen, wenn sie nicht in deren Haus gewohnt hätte. So hatte sie noch niemand beleidigt. Wo denn der Wächter sei, fragte Marga. Die Wächterin war noch ganz schockiert und sagte, dass ihr Mann Jean-Sebastien am Wassergarten sei. Marga ging zum Wassergarten. Dort stand Jean-Sebastien und schnitt überhängende Äste ab. Gerade fiel ein dünner Zweig, den er abgeschnitten hatte, in den Kanal. Da begann Marga zu schreien wie am Spieß. Jean-Sebastien dachte, sie habe vielleicht eine Spinne oder einen Skorpion gesehen. Aber als Margas Schreien in verständliche Worte überging, hörte er: „Daaaas ist ein Barooockgarteeeen, da darf man nichts abschneideeen! Duuu hast alles zerstööört!“ Jean-Sebastien versuchte noch zu erklären, dass fallendes Laub den Kanal verschlammt, wurde aber übertönt und sagte daher nichts mehr. Er schloss ratlos den Mund. Als Marga endlich fertig war, sagte Jean-Sebastien noch: „Wars das jetzt?“ Marga antwortete: „Ja, das wars.“ Der Wächter ging daraufhin ins Haus, wo er seine weinende Frau vorfand. Er umarmte sie und fragte, was los sei. Dann erzählten sich die beiden ihre Marga-Erlebnisse und beschlossen, dass es Zeit sei, weiterzuziehen, beziehungsweise zurückzuziehen. Sie riefen ihren alten Vermieter an und hatten Glück, ihre alte Wohnung war noch nicht neu vermietet worden. Sie packten also ihre Sachen und machten sich davon.

Beaumesnil jardin des 4 saisons
Ein Barockgarten, allerdings nicht der von Marga, sondern in Beaumesnil. Eigenes Foto.

Damit hatte Marga dann doch nicht gerechnet. Wie sollte man denn ohne Wächter auskommen? Das war ja schlimmer als ohne Mann, der idealen Chauffeur- und Koch-Kombination. Jean-Pierre vertrug Alkohol wirklich nicht so gut. Er hatte am Morgen eine Kopfschmerztablette genommen, hatte aber noch kein Wort gesagt, bis Marga ihm zurief: „Schau mal, die Wächter fahren weg. Mach doch was! Geh raus und hol meine Sachen wieder, die beklauen mich doch bestimmt.“ Jean-Pierre ging also hinaus und versuchte sich den Wächtern in den Weg zu stellen. Die fuhren um ihn herum und beachteten ihn nicht weiter. Er lief noch ein kleines Stück hinter ihrem Auto her und winkte mit den Armen. Aber es war aussichtslos. Wie sollte er nur ohne die Wächter auskommen? Klar gab es Wächter wie Sand am Strand, aber die würden ja nicht sofort auf der Matte stehen. Jean-Pierre setzte sich auf den Bordstein am Straßenrand und versenkte das Gesicht verzweifelt in den Handflächen. So blieb er etwa zwanzig Minuten sitzen. Als er sich erhob, sah er ganz grau aus.

Marga stand auf dem Kies am Tor. Kaum hatte er das Grundstück erreicht, begann sie wieder zu keifen. Jean-Pierre sagte nichts. Er ging die gut gebohnerte Holztreppe bis in den zweiten Stock und blieb dort stehen. Marga kam nach einer Weile in den Eingangsraum. Sie schrie etwas zu ihm hoch. Er verstand es nicht. Irgendwie konnte er gar nichts mehr verstehen. Jean-Pierre hatte eine Flasche bayrisches Bier aus besseren Tagen in seiner Sockenschublade versteckt. Die holte er jetzt, machte sie auf, ein bisschen Bier quoll heraus. Er trank einen Schluck. Ein Tropfen Bier löste sich von der Flasche und fiel ins Erdgeschoss, wo Marga stand. Der Tropfen fiel ihr genau auf die Nase. Die Lautstärke ihres Geschreis schwoll an, während sie die Treppe hochging, so schnell sie konnte. Das war zugegebenermaßen nicht sehr schnell, sie hatte Probleme mit der Hüfte. Oben angekommen holte sie zu einer Ohrfeige aus, oder vielleicht wollte sie Jean-Pierre auch die Flasche aus der Hand schlagen, jedenfalls holte sie aus. Ihr Mann wich zurück und streckte den Arm mit der Flasche zur Seite aus, damit Marga nicht an die Flasche kam. Dadurch geriet Marga aus dem Gleichgewicht. Sie drehte sich halb um ihre eigene Achse, verhedderte sich dann mit den Beinen und stürzte. Sie schlug mit dem Gesicht vor einen der Treppenpfosten, Blut spritzte und ihr brach ein Zahn ab. Für Jean-Pierre lief alles in Zeitlupe ab. Er stellte sich vor, wie sie wegen des Zahns schreien würde. Dabei zuckte sein linkes Bein unwillkürlich nach vorn, womit er Marga endgültig von der Stufe schubste. Er wollte gerade sagen, dass es ihm leidtat, da hielt er sich erschrocken die freie Hand vor den Mund. Es tat ihm ja gar nicht leid. Währenddessen kullerte die Frau die Treppe herunter, nahm sogar die Kurve mit und krachte unten mit lautem Getöse vor die Wand. Jean-Pierre trank jetzt das Bier aus. Dann setzte er sich auf die oberste Treppenstufe und wartete, ob Marga aufstand und schrie. Nichts. Alles blieb still.

Leben mit Marga 9

Relativitätstheorien

Bekanntlich sagt Marga nicht immer die Wahrheit. Sie lügt aber auch nicht immer wissentlich. In dem Moment, in dem sie etwas sagt, glaubt sie an die Wahrheit ihrer eigenen Worte. Das ist natürlich sehr praktisch. Marga stellt sich eine Wirklichkeit vor, die ihren Worten entspricht. Sie hat Fantasie. Marga selbst hat einmal in ihrer Jugend einer Journalistin ihrer Schulzeitung gesagt, dass sie ein Defizit habe, da sie in ihren Träumen lebe. Träume sind häufig angenehmer als die Realität. Dieses Defizit ist ein Gewinn für Marga. Nur wer Träume hat, vollbringt Großes, indem er diese Träume wahr werden lässt. Das ist jedenfalls Margas Theorie. Ich kann da nicht mitreden, ich habe keine Träume.

Marga war mit dem falschen Fuß aufgestanden und warf ihren Wächtern vor, dass ein antikes Bild verschwunden sei. Marga geht davon aus, dass sie ein fotografisches Gedächtnis hat. Die Wächter machten sich sogleich auf die Suche nach dem Bild, sie wollten nicht als Diebe dastehen. In ihrer Zeit als Wächter hatte das Bild allerdings noch nie an dem von Marga angegebenen Platz gehangen. Marga hatte das Bild vor Jahren verkauft. So waren die Wächter erstmal beschäftigt. Marga und Jean-Pierre fuhren derweil in Margas Laden. Eigentlicher Grund für Margas Unmut war, dass Argentin de Bavay ihr Buch nicht wie versprochen veröffentlicht hatte. Marga hatte ihr Buch nie einem richtigen Verleger gezeigt. Dabei hätte es vielleicht einen annehmbaren Groschenroman abgegeben.

Als Jean-Pierre Marga abends vom Geschäft heim zum Schloss chauffierte, sprang plötzlich ein junger, gutaussehender Mann unweit des Schlosses auf die Straße und genau vor Jean-Pierres klappriges Auto. Glücklicherweise gelang es Jean-Pierre, rechtzeitig zu bremsen. Der Mann klatschte trotzdem auf die Motorhaube. Das kam Jean-Pierre komisch vor, aber er war zu sehr erschrocken, um die Umstände zu hinterfragen. Jean-Pierre stieg aus und eilte zu der Gestalt, die vor dem Auto auf die Dorfstraße gesunken war.

„Es geht mir gut“, ächzte der Mann und winkte mit schmerzverzerrter Miene ab. Er versuchte aufzustehen, aber sein Knöchel oder Knie, oder jedenfalls irgendetwas am rechten Bein schien verletzt zu sein. Er konnte das Bein wohl nicht belasten und knickte immer ein. Jean-Pierre stützte ihn schließlich und bot an, ihn ins Krankenhaus zu fahren. Marga wurde ungeduldig. Sie fragte mit der ihr eigenen Kaltschnäuzigkeit, ob sie schonmal zu Fuß zum Schloss gehen solle. Als der junge Verletzte das Wort „Schloss“ hörte, leuchteten seine Augen auf. Er hatte sehr schöne grüne Augen mit warmen braunen Sprenkeln im Grün. Dann sei sie wohl die berühmte Frau Marguerite, säuselte der Unbekannte und humpelte zu Margas Autotür. Die hatte das Fenster heruntergekurbelt und sah sich jetzt den Mann an. Er war schlank, hatte mittellanges, dunkelblondes, leicht gewelltes Haar, einen schmalen Mund und einen frechen, selbstbewussten Ausdruck im Gesicht. Den Hintern konnte sie aus dieser Perspektive leider nicht sehen.

Der Unbekannte war mittelgroß, braungebrannt und trug die Kleidung eines Sportlers. Er war wohl gerade gelaufen, gejoggt. Marga hatte davon gehört, dass manche Leute so etwas taten. Sie selbst hätte gar keine Zeit dafür. Man muss arbeiten, arbeiten, arbeiten und konnte ja wohl nur als Profisportler Geld durch sportliche Betätigungen verdienen. Sport war demnach Zeitverschwendung. Es gefiel ihr aber, dass der junge Mann sie kannte. Sie wunderte sich nicht, woher er sie kannte, es kam ihr ganz natürlich vor. Jeder kannte sie. Sie selbst beschäftigte sich immerhin auch viel mit ihrer eigenen Person. Der Mann stellte sich mit seinem Vornamen vor, Stéphane. Er sei Sportler, Fechter, um genau zu sein und habe gerade trainiert. Marga besah sich den Mann genauer. Stéphane war gerade 21 Jahre alt geworden. Marga begann, sich für Stéphane zu erwärmen. Ein Sportler, soso, dann durfte er auch laufen. Sportler sind bestimmt besonders ausdauernd. Bei dem Gedanken begannen Margas Augen ebenfalls zu leuchten. Die beiden strahlten einander an. Stéphane fragte, ob Marga ihn nicht zum Tee einladen wolle, als Entschädigung dafür, dass Jean-Pierre ihn angefahren habe. Jean-Pierre, dem nicht entgangen war, dass die Luft zwischen Stéphane und Marga wie elektrisch aufgeladen war, war nicht begeistert und verspürte so etwas wie Eifersucht. Marga wollte gern Tee mit dem hoffentlich ausdauernden, schönen Unbekannten trinken und lud ihn für den nächsten Tag ein. Sie könnte ihm auch ihre Degensammlung zeigen, sagte sie. Das war keineswegs ein Scherz. Sie hatte wirklich eine Degensammlung.

This is rather not so
Teile einer Degensammlung. Eigenes Foto.

Während Marga und Jean-Pierre auf das Grundstück fuhren und das schwere Eisentor sich schloss, hörte Stéphane auf, zu humpeln. Das war eine riskante Aktion gewesen. Hatte sich aber gelohnt. Zufrieden joggte Stéphane ins Nachbardorf, in dem das Auto stand, das er sich geliehen hatte. Stéphane hatte gehört, dass Marga ihr Schloss verkaufen wollte. Ein Bekannter hatte es besichtigt und erzählt, dass es voller Antiquitäten war. Die Sicherheitsanlagen waren zwar nicht sehr gut, aber die Wächter waren praktisch immer da. Das machte Stéphane nichts aus. Er war ja kein Dieb, oder jedenfalls stahl er nur, wenn es notwendig war.

Stéphane hatte – genau wie Marga – schon in seiner Kindheit beschlossen, dass er nicht das Kind seiner Eltern sein konnte. Sein Vater war ein Trinker und verschwand, als Stéphane in die Grundschule kam. Stéphanes Mutter arbeitete daraufhin als Prostituierte, was nicht viel Geld einbrachte. Sie empfing ihre Freier zu Hause und Stéphane musste dann raus in die Straßen von Marseille. Jedes Mal, wenn seine Mutter ihm drohte, dass sie ihn ins Kinderheim geben werde, sagte er: „Mach doch!“ Und er meinte das auch so. Es konnte nicht schlimmer sein, in einem Kinderheim zu leben. Mit siebzehn fand Stéphane einen Liebhaber, Sacha, der bereit war, ihn bei sich aufzunehmen und für ihn zu sorgen. Stéphane war bisexuell. Sacha war Anwalt und verdiente gut. Das war ja schön und gut für Stéphane, aber er wollte gern frei sein und sein eigenes Geld besitzen, wenn auch nicht unbedingt verdienen. Einen Beruf ausüben klang nach Einschränkung, Anstrengung und Verzicht.

Eines Tages schlenderte Stéphane durch Marseille und kam am Friedhof Saint-Pierre vorbei. Auf dem Bürgersteig stand ein Zelt. Jemand schien dort zu wohnen. Drei Wochen später kam er wieder an der gleichen Stelle vorbei. Inzwischen standen dort zwei Zelte und davor standen sogar Möbel, ein Bürostuhl, ein Nachtschrank, eine Art Teppich. Hier wohnte jemand, der so arm war, dass er inmitten der Stadt von deren Abfall lebte. Niemand bettelte am Zelt, aber vielleicht saß der Bewohner des Zeltes irgendwo in der Innenstadt und bettelte dort. Das erschreckte Stéphane. Man konnte so weit sinken, dass man mittellos auf der Straße hausen musste. Aber das Leben ging weiter. Die Leute eilten geschäftig an den Zelten vorbei und verschwendeten keinen Gedanken an deren Bewohner. Niemand gab sein Geld freiwillig den Armen. Es gab kein Erbarmen, keinen Robin Hood. Die Wirklichkeit war grausam. Was wäre, wenn Sacha ihn eines Tages hinauswerfen würde? Würde er dann hier enden?

Egoisme - Jalousie
Urnengrab auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise: „Du, der du vorbeigehst, denke über diese Worte nach: Egoismus und Eifersucht verursachen alle unsere Probleme. In einer besseren Gesellschaft wäre das Glück die Belohnung.“ Eigenes Foto.

Stéphane wollte nicht arbeiten gehen. Er hatte vielfältige Gaben und Hobbys. Einem so intelligenten und belesenen Menschen stand doch die Welt offen, auch wenn er keinen Schulabschluss hatte. Stéphane war sportlich, er konnte richtig gut fechten. Sein eigener Körper begeisterte ihn. Er hatte auch gern Sex. Es war ihm aber klar, dass er nicht immer jung und schön bleiben würde. Stéphane war jetzt einundzwanzig. Vielleicht würde der Tag kommen, an dem weder ein Mann, noch eine Frau bereit wäre, seinen Unterhalt einfach nur dafür zu bestreiten, dass er bei ihnen wohnte. Na gut, er war witzig und unterhaltsam, das würde ihn vielleicht auch nicht retten. Ob er kochen lernen sollte? Liebe ging doch durch den Magen? Oder ob er im Alter wie Giacomo Casanova bei irgendeinem Gönner in der Bibliothek arbeiten und Bücher über sein eigenes Leben verfassen würde?

Stéphane liebte Sacha nicht, aber er hatte auch nichts gegen ihn. Sacha war gut zu Stéphane. Sacha dachte, der Junge litte unter Mythomanie, denn Stéphane konnte lügen ohne zu erröten und tat es auch dann, wenn es absurd und unnötig war. Stéphane fand, dass es eine Kunst war, zu lügen. Eine Kunst, die man üben musste. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Sacha musste nicht alles wissen. Eifersucht war sowieso Besitzdenken. Da sollte man doch drüberstehen. Dementsprechend verschaffte sich Stéphane gelegentlich ein Zubrot.

Es gab immer wieder Menschen, die Stéphane durchschauten. Aber das war ihm egal. Er war auch nicht wütend, wenn er durchschaut wurde. Er sagte immer, dass man ehrliche Menschen nicht betrügen könne. Das war ein Lob gegenüber den Leuten, die ihn durchschauten. Und zugleich setzte es alle herab, die er betrogen hatte. Die Betrogenen schwiegen beschämt oder glaubten weiterhin, Stéphane sei ehrlich, habe nur Pech gehabt und sie würden ihr Geld noch bekommen. Es war überraschend, wie viele Leute sich von Schmeicheleien beeinflussen ließen und ihn für einen absolut ehrlichen Menschen hielten. Stéphane bot den Leuten Möglichkeiten, denen sie nur selten widerstehen konnten und wenn sie merkten, dass seine Angebote aus falschen Hoffnungen, schönen Geschichten und gefälschten Papieren bestanden hatten, konnten sie ihn nicht einmal anzeigen. Er hatte schon genug Geld, um sich im Ernstfall ins Ausland abzusetzen. Er konnte Marga anbieten, wegen der Steuer ein Haus zu kaufen, das er gar nicht besaß. Das klingt so nicht sehr plausibel, ähnliche Sachen hatte er aber schon mit anderen Leuten durchgezogen. Stéphane konnte ihr auch anbieten, sich in ein fiktives Geschäft einzukaufen. Er wusste noch nicht genau, wie oder ob er Marga um Geld erleichtern würde. Improvisation war gefragt.

Am nächsten Tag fuhr Stéphane mit dem geliehenen Auto zum Schloss. Es war ein älterer, schwarzer Mercedes, der solide und vertrauenerweckend wirkte. Stéphane hatte eine Packung Mozartkugeln als Geschenk dabei. War gar nicht so einfach gewesen, in Südfrankreich an Mozartkugeln zu kommen. Marga hatte Jean-Pierre ins Geschäft geschickt. Jean-Pierre war das alles nicht geheuer. Der Wächter Jean-Marc öffnete Stéphane das Tor und führte ihn danach ins Schloss. Stéphane entschuldigte sich bei Marga für seine Unvorsichtigkeit am Vortag. Er bedankte sich für die Fürsorge. Wenn er eine Beule ins Auto gemacht habe, dann würde er für die Ausbesserung bezahlen. Marga nahm das gern an und Stéphane drückte ihr einen Hundert-Euros-Schein in die Hand. Eine Investition seinerseits.

The salon
Ein Salon. Zierliche Möbel. Eigenes Foto.

Jean-Marcs Frau servierte Tee und Kekse in den Salon. Da saßen sie auf zierlichen Möbeln aus dem 18. Jahrhundert. Marga trug ihren weinroten Samtanzug mit den handgeklöppelten Rüschen im Ausschnitt. Sie aßen und tranken und dann zeigte Marga dem jungen Mann ihre Degensammlung. Historische Degen. Stéphane probierte jeden aus und hüpfte damit – zu den Klängen von Mozarts Zauberflöte – durch das Schloss. Ihm wurde warm und er musste sich nach und nach einiger Kleidung entledigen, bis sein Oberkörper immerhin nackt war. Ein dünner Schweißfilm glänzte auf stahlharten Muskeln unter seidiger Haut. Ganz wie in einem Werbespot oder einem der schon oben erwähnten Groschenromane. Margas Pupillen waren geweitet und ihre Herzfrquenz nahm ganz deutlich zu. Eine leichte Röte überzog ihre Wangen. Sie fragte ihn schließlich, ob sie seine Muskeln mal anfassen dürfe. Sie durfte. Aber das war es auch schon. Als Stéphane nicht mehr herum hopste, wurde ihm kalt und er zog sich wieder an. Er bedankte sich für den schönen Nachmittag und lud Marga für den übernächsten Abend zum Essen in ein Restaurant ein. Stéphane nahm an, dass sich die Investition irgendwann lohnen würde. In einem Restaurant würde sich Marga wenigstens nicht an ihn heranmachen. Sie war nicht sein Typ. Bei Frauen war sein Typ jedenfalls unter dreißig Jahren alt, was er natürlich nicht sagte. Marga war ein bisschen enttäuscht, hielt sich aber später an Jean-Pierre.

Abends spielte Stéphane Sacha vor, wie er mit den Degen durch das Schloss gehopst war. Sacha machte das ein bisschen eifersüchtig, aber hauptsächlich machte es ihn an. Es beunruhigte ihn dennoch, dass der junge, seiner Meinung nach unerfahrene Stéphane mit dieser Frau in Kontakt stand. Marga hatte in der Schwulenszene einen gewissen Ruf, nachdem sie versucht hatte, einen sehr homosexuellen Innenarchitekten zu nötigen. Der hatte gar nicht gekonnt, was Marga von ihm gewollt hatte. Eine sehr unangenehme Geschichte, die damals wie ein Lauffeuer verbreitet wurde. Nicht nur, weil der Innenarchitekt es jedem erzählte, sondern auch, weil er auf den Straßen Marseilles in Margas Nachthemd gesehen worden war. In einem kleinen Kabarett in der Marseiller Innenstadt sang man ein paar Wochen lang ein Lied dazu. Jemand hatte einen vulgär-humoristischen Text auf die Melodie eines bekannten Chansons verfasst. Grob übersetzt lautete der Refrain: „In der Sauna von Margarete zahlt man in Natura und nicht mit Knete“. Das entbehrte natürlich jeglicher Grundlage, denn Marga hatte gar keine Sauna und Geld war ihr lieber als alles andere.

Stéphane schlug Sachas Warnungen in den Wind. Am übernächsten Abend ging er mit Marga in ein teures Restaurant. Marga ging sonst nie in Restaurants, weil man dort Geld bezahlen musste, aber wenn sie eingeladen wurde, dann war das in Ordnung. Jean-Pierre musste zu Hause bleiben und die Steuererklärung fertig machen. Marga und Stéphane lachten viel. Stéphane war so witzig. Er gab dem Personal dicke Trinkgelder, und alle schienen ihn zu kennen. Sie nannten ihn „Monsieur Stéphane“. Marga wunderte sich nicht. Sie kam sich bekannt und umschwärmt vor, wie in ihrer Opernzeit. Jean-Marc hatte Marga zum Restaurant fahren müssen. Er wartete draußen im Auto und hörte Johnny Hallyday-Kassetten. Schließlich kamen Marga und Stéphane aus dem Restaurant. Der junge Mann hatte zu viel getrunken und konnte nicht mehr fahren. Marga erwartete, dass er mit zu ihr käme. Das mit Jean-Pierre ließe sich bestimmt regeln. Da hatte sie sich aber getäuscht. Stéphane nannte Jean-Marc eine Adresse in Mazargues, einem feinen Viertel von Marseille. Dort stieg der junge Mann aus, winkte und verschwand im Eingang zu einem Grundstück. Marga war so enttäuscht, sie hätte fast geweint. Nur gut, dass Jean-Pierre zu Hause wartete. Stéphane wartete in den Schatten, bis das Auto außer Sichtweite war, dann ging er heim. Ein kleiner Fußmarsch unter den Sternen in frischer Luft, das würde ihm guttun.

Late 19th-century kitsch
Aber ohne Pferd. Die Frisur ist falsch aber sonst ist es gar nicht mal so unähnlich. Eigenes Foto von einer Kopie der Marly Pferde.

So ging es ein paar Wochen lang weiter. Stéphane unternahm zweimal in der Woche etwas mit Marga, ging nie mit ihr ins Bett, präsentierte aber häufig die Vorzüge seines Körpers und machte ihr Hoffnungen. Sie gingen Essen, in Bars, ins Theater und in die Oper. Marga reagierte ihre Frustration danach immer an Jean-Pierre ab. Inzwischen hatte Stéphane beschlossen, Marga ein halbes historisches Haus im ersten Bezirk von Marseille zu verkaufen. Natürlich besaß Stéphane das Haus nicht. Es stand gerade zum Verkauf. Stéphane ließ bei Marga durchblicken, dass er das Haus gerne kaufen würde. Es wäre fantastisch für einen Antiquitätenladen und böte noch genug Platz für vier große Wohnungen. Das Haus war im 17. Jahrhundert erbaut worden und hatte eine besonders pittoreske Fassade. Sie besichtigten das Haus gemeinsam. Marga fand das alles ganz aufregend. Es würde soviel zu dekorieren geben. Dann verkündete Stéphane jedoch, er habe momentan nicht soviel Geld flüssig, da er noch in verschiedene andere Objekte investiert habe. Er werde versuchen, sich einen Teilhaber zu suchen. Marga war begeistert: „Ich kann deine Teilhaberin werden.“ Stéphane strahlte: „Das ist eine wunderbare Idee.“ Stéphane ließ sich die notwendigen Papiere fälschen. Marga überwies ihm eine halbe Million Euros von einem Schwarzgeldkonto („der Staat muss ja nicht alles wissen“). Stéphane löste daraufhin sein Konto auf und verschwand. Er fragte Sacha sogar noch, ob der mitkommen wolle. Sacha war untröstlich, wollte aber seine Familie nicht verlassen. Seine alte Mutter. Er war wochenlang in Tränen aufgelöst. Also fuhr Stéphane allein nach Kanada, wo er seine Karriere fortsetzte.

Marga tobte. So etwas war ihr noch nie passiert. Normalerweise fälschte sie Gegenstände und betrog damit ihre Kunden und nicht umgedreht. Sie merkte, dass sie nicht einmal den richtigen Namen des infamen Betrügers kannte. Da musste sie einsehen, dass die „Opernzeit“ definitiv vorbei war. Sie wollte sich ganz aus dem gesellschaftlichen Leben zurückziehen und ihr Blick fiel auf Jean-Pierre, der nun wusste, dass Stéphane ein Segen für ihn gewesen ist.

Stéphane zog später wieder zurück nach Frankreich. Kanada und die USA waren zwar aufregend und einträglich gewesen aber irgendwann hatte jemand Stéphane doch angezeigt. Nach ein paar Jahren im Gefängnis hatte er begonnen, autobiografische Romane zu schreiben. Er hatte auch Marga erwähnt, allerdings unter anderem Namen. Er hatte die Zeit ihrer Bekanntschaft mit ein paar übertriebenen Details ausgestattet und extra darauf hingewiesen, dass es ihre eigene Idee gewesen war, ihm Geld zu geben. Geld, das sie am Staat vorbeigehortet hatte. Marga wollte unbedingt mit ihm zusammen sein und war bereit, dafür viel Geld zu zahlen. Stéphane war Marga ein bisschen dankbar, denn sie hatte ihm die Fahrt nach Kanada ermöglicht. Sie war seine Gönnerin gewesen, wenn auch nicht freiwillig.

Ja, ich weiß auch, dass das nicht witzig ist. Das liegt daran, weil es eine komplett fiktive Begegnung ist. So als hätte man Hitler mit Kleopatra zusammengebracht. Ja, ich weiß, der Vergleich hinkt. Marga hätte nie solche Geschäfte gemacht. Da muss ich gleich daran denken, wie Jean ihr ausgeredet hat, den Zitronenbaum aus Italien einfliegen zu lassen. Und wie Jean-Marc ihr das Geld von der Versicherung verschafft hat, Jahre nachdem der Sturm den Schornstein von einem der Gebäude am Schloss geblasen hat. Natürlich verehren alle Wächter diese Frau. Und ich habe diese fiktive Begegnung bestimmt nur aus Neid geschrieben.

Man kann aber etwas aus der Geschichte lernen: wenn einen schöne Fremde anquatschen, wollen sie einem vielleicht das Geld aus der Tasche ziehen. Also, Obacht, wen ihr überfahrt. Eine Stéphane-Episode wurde übrigens verfilmt. Aber der Film ist nicht besonders gut und nicht allgemein bekannt. Französische Beziehungsdramen kennt man ja. Es wird viel geredet, aber nichts passiert. Ich hab nur Ausschnitte gesehen, weil ich es langweilig fand. Marga hätte es toll gefunden, jemanden zu kennen, der bekannt genug ist, um autobiografische Romane zu schreiben und der in Filmen vorkommt. Es ist möglich, dass Marga die Regisseurin von dem Film über die Episode mit Stéphane kennt. Huch! Aber ich hab das ja alles nur erfunden.

Leben mit Marga 8

Olle Kamellen

Mir ist da ganz was Blödes passiert, ich habe die letzten Kapitel vom Leben mit Marga gelöscht. Ich war dann ganz kurz besorgt, es ist mir aber gelungen, sie von der Seite eines Freundes, wo ich die Geschichten damals unter Pseudonym veröffentlicht habe, zu kopieren. Das hätte ins Auge gehen können. Ich glaube, dass der Grund, für die versehentliche Löschung ist, dass ich Marga nicht so schnell sterben lassen möchte. Es gab ein Leben nach Marga, in dem jeder ihrer Freunde und Weggefährten eine Geschichte mit ihr zum Besten geben sollte. Aber ich möchte das Leben nach Marga lieber ausfallen lassen und verlängere hiermit das Leben mit Marga. Eigentlich müsste diese Geschichte Leben mit Marga 2 sein und alles andere nach hinten verschoben, denn der Schlosswächter ist hier Jean, den wir noch aus Voodoo kennen. Jean selbst sagte dazu: „Ich war vor Pierre Wächter. Nach Pierre war Jean-Pierre Wächter. Da wir einander nicht gezeugt haben, war das immerhin nicht wie zu Beginn eines Evangeliums.

Das verfluchte Bild

Als Marga wieder einmal über einen Flohmarkt flanierte, sah sie ein gerahmtes Pastellporträt, das ihr gefiel. Es zeigte eine junge Frau mit einem Lorbeerkranz auf dem Kopf und einem verklärten Ausdruck im Gesicht. Das Bild war etwa 45 Zentimeter hoch und 37 Zentimeter breit. Die Frau auf dem Gemälde kam Marga bekannt vor und so fragte sie den Verkäufer, wer die Frau war und was das Bild kosten solle. Der Mann hatte das Bild auf dem Speicher in dem Haus seines Großvaters gefunden. Er wusste nicht, wer die abgebildete Frau war. Auf der Rückseite des goldfarbenen Rahmens klebte ein kleines Papierschild mit dem Namen der Firma, die den Rahmen hergestellt hatte. Eine Firma in Edinburgh. Vielleicht würden die Leute dort mehr wissen, wenn es die Firma noch gab. Da das Bild nur 28 Francs (etwa 30 €) kosten sollte und somit, selbst wenn es nur als Dekoration taugte, preiswert war, kaufte Marga das Bild. Jean nahm das Bild entgegen, trug es zum Auto, schlug es in eine Decke ein und verstaute es im Kofferraum. Auf der Fahrt fragte Marga, ob er Klopfgeräusche aus dem Kofferraum höre. Er hörte nichts und da war ja auch nichts außer dem Bild im Kofferraum und vielleicht lag es einfach an seinem klapprigen Auto. Als die beiden am Schloss ankamen, machte Jean den Kofferraum auf. Es kam ihm so vor, als sei die Decke verrutscht. Aber auch das hätte leicht auf der Fahrt passiert sein können. Jean trug das Bild hinein und wollte es in den Schlossflur stellen, aber Marga befahl ihm, sogleich eine Leiter zu holen und das Bild aufzuhängen. Sie gingen in das hintere Eckzimmer im Erdgeschoss und Jean hängte das Bild auf. In dem kleinen Raum stand ansonsten noch eine Chaiselongue und daneben ein kleines Tischchen mit einer Vase drauf. In der Vasen standen weiße Lilien, Margas Lieblingsblumen.

Miniputz mag Antiquitäten
Aber natürlich ohne Katze.

Am nächsten Tag waren alle Lilien verblüht. Die Blütenblätter lagen auf dem Tischchen und auf dem Boden. Es war kein schöner Anblick. Jean dachte sich nichts dabei. Als seine Frau in dem Zimmer putzte, behauptete sie allerdings, dass es dort plötzlich kälter geworden sei. Sie erzählte das Marga. Die fand es aufregend und wollte das „Spukzimmer“ sofort ausprobieren. Marga setzte sich auf die Chaiselongue und wartete, ob etwas passiert. Es passierte aber nicht sogleich etwas und da wurde es ihr langweilig. Marga stellte neue Blumen auf und ging ihrem Tagwerk nach. Am nächsten Tag waren die neuen Lilien ebenfalls verwelkt. Marga verlangte von Jean, dass er mehr über das Bild herausfinden solle. Er stellte fest, dass die Firma, die den Rahmen hergestellt hat, noch existierte. Sein Englisch war nicht besonders gut, aber er schaffte es irgendwie, sich dem Mann, dem die Firma gehörte, verständlich zu machen. Jean sollte ein Foto des Gemäldes nach Edinburgh schicken. Jean versuchte, ein Foto von dem Bild zu machen. Aber seine Kamera musste kaputt sein. Es war wie verhext. Auf den Fotos entstanden Schlieren. Dunkle Schwaden schienen in der Luft zu schweben. Marga fand das ganz toll und wollte, dass Jean in dem Zimmer schlafen solle, um alles zu dokumentieren, was in der Nacht passiert. Jeans Frau meinte dazu: „Die soll sich andere Versuchskaninchen für ihre perversen spiritistischen Spiele suchen.“ Jean gab also vor, unter starkem Rheumatismus zu leiden, sodass er nicht auf der Chaiselongue liegen könne.

Der schottische Firmenbesitzer hatte versprochen, in den alten Geschäftsbüchern nachzuschauen, ob er etwas über das Bild finden könnte. Bevor er sich wieder meldete, schon am Nachmittag des gleichen Tages, stand ein älterer Mann in schwarzer Gewandung vor dem Tor. Das graue Haar war nach vorn gekämmt und die oblatengroße Glatze auf seinem Scheitel wirkte wie eine Tonsur. Er wirkte wie ein Priester. Die Ähnlichkeit war wohl gewollt. Der Mann nannte sich „Vater Robertus“, aber „Vater“ können sich eigentlich alle nennen, die Kinder haben. Echte Kinder oder vielleicht reichen auch geistige Kinder. Projekte. Einen Baum gepflanzt haben, ein geistiges Kind gezeugt und so weiter. Die Endung „us“ kann bestimmt einigen männlichen Vornamen mehr Autorität verleihen. Jeanus wäre aber nicht so gut.

Nightmares in pastel bleu
Jedes Gemälde könnte ein verschollenes Meisterwerk sein!

Vater Robertus verlangte jedenfalls, die „Schlossherrin“ zu sehen. Er habe gefühlt, dass sie seine Hilfe brauche. Sie sei verflucht. Er wolle sie exorzieren. Jean war beeindruckt, lief geschwind zu Marga und erzählte ihr von dem Exorzisten. Marga war sofort begeistert und verschwand im Bad, um sich zu schminken. Der „Vater“ wurde in den Salon geführt, wo er auf einer zierlichen, blauweißen Bank Platz nahm. In der einen Hand hielt er ein speckiges, schwarzes Buch, wahrscheinlich eine Bibel. Oder auch irgendein anderes Buch. Es könnte auch ein Hohlraum für einen Flachmann in dem Buch gewesen sein. Oder für einen Revolver. Das werden wir nie erfahren. Um den Hals trug er ein großes, abgegriffenes Holzkreuz an einem langen Lederband. Dieses Kreuz hielt er in seiner anderen Hand. Marga trat ein und schwenkte dabei die Arme herum, als betrete sie eine Bühne. Vater Robertus stand auf und begrüßte sie. Dabei entstand ein peinlicher Moment, als Marga ihm ihre Hand zum Handkuss hinhielt und Vater Robertus ihr seine Hand zum Handkuss hinhielt. Bischof konnte er doch wohl wirklich nicht sein. Marga und der Mann erstarrten kurz, dann schüttelten sie sich die Hände und lächelten verbindlich. „Sie sind also Exorzist“, begann Marga. Mit gewichtiger Stimme begann Vater Robertus ihr zu erklären, dass ihm in der letzten Nacht ein Engel im Traum erschienen sei, der ihm befohlen hatte, Marga vor dem verfluchten Bild zu schützen, das sie kürzlich erworben hatte. Marga sah Jean an, der zuckte mit den Achseln, er hatte den Exorzisten jedenfalls nicht bestellt. Dem Wächter kam aber der Verdacht, dass seine Frau den mysteriösen Vater Robertus informiert hatte. Seine Frau war sehr religiös, um nicht zu sagen abergläubisch und sie wusste, dass Marga den „dunklen Künsten“ zugeneigt war. Mit „dunklen Künsten“ meine ich keinesfalls „Die Nachtwache“ oder ein anderes dunkles Gemälde, weder das kunstvolle Stricken dunkler Mützen und Socken, noch Origami mit dunklem Papier.

Äpfel mit Birnen vergleichen
Sowas natürlich auch nicht.

Marga und Vater Robertus versuchten dann gegenseitig sich zu charmieren. Doch, das Wort gibt es wirklich, es steht so im Duden. Ich finde aber, dass das nichtexistente Wort „charmisieren“ viel besser klingt. Was er als Bezahlung für einen Exorzismus haben wolle, fragte Marga. „Gar nichts“, antwortete der Mann. Er tue das alles nur für den Sieg des Guten in der Welt. Das fand Marga exotisch. Jean fand es aber auch exotisch. Vater Robertus ergänzte denn auch, dass Marga seiner Kirche etwas spenden oder schenken könne, wenn sie mit seiner Arbeit zufrieden sei. Er nehme auch Naturalien, sagte der Exorzist und als Marga daraufhin ihre Brust rausstreckte, setzte der Exorzist noch hinzu, dass er zurückhaltend und keusch sei und nur für den Glauben lebe. Das sollte wohl heißen, dass er bestimmte Naturalien als Bezahlung ausschloss. Marga schien das ein wenig zu enttäuschen. Allerdings war Vater Robertus alt und unansehnlich, also war sie nicht allzu beleidigt. Sie würde ihn nur „beschenken“, wenn er auch erfolgreich sei, gab Marga zurück. Das reizte den Mann zu der Bemerkung, dass es gesünder sei, sich großzügig gegenüber Männern zu zeigen, die Geistern und Gespenstern Befehle erteilen und Flüche aufheben konnten. Womöglich konnten diese Menschen auch Flüche aussprechen. Marga gab zu bedenken, dass man wohl kaum christlich sein könne, wenn man andere Leute verfluche. Es kam zu einem Patt und Marga bot 15 Francs (16 €) für den Fall, dass der Exorzist erfolgreich sei. Der lachte darüber und spottete, dass seine Geister ihn schon gewarnt hätten, dass Marga geizig sei. Das gefiel Marga gar nicht, sie lief rot an und Jean merkte, dass sie kurz davor stand, Vater Robertus hinauswerfen zu lassen. Der Spuk machte ihr jedoch Angst und so ballte sie die kleinen Fäuste und sagte, dass 20 Francs (21 €) ihr letztes Wort sei. Vater Robertus nahm an. Wenn sie weiße Kerzen habe und einen Eimer Wasser, den er weihen könne, dann wäre er sofort bereit.

Sie schritten zur Tat. Vater Robertus segnete einen grünen Plastikeimer voll Wasser, den zuerst angebotenen schwarzen Eimer hatte er abgelehnt. Dann verspritzte er das Wasser im Zimmer. Als Vater Robertus zum Gemälde kam, warf er dem Bild einen scharfen Blick zu und verkündete, das könne er nicht jetzt und hier exorzieren, das Bild sei die Ursache des Problems, es würde von der unheiligen Seele einer Ehebrecherin und Mörderin bewohnt. Marga solle das Bild lieber verbrennen. Marga fragte ihn, ob er noch alle beisammen habe. Beide regten sich furchtbar auf. Der Mann kniff die Augen zusammen und Marga ballte wieder die kleinen Fäuste. Dann handelte sie jedoch mit dem Exorzisten aus, dass sie ihm das Bild gab – also schenkte, damit er es daheim exorzieren könne. Er würde im Gegenzug weder eine Bezahlung noch ein weiteres Geschenk von ihr erwarten. Er konnte ja das exorzierte Gemälde behalten. Jean wollte etwas einwenden, das ging ihm zu plötzlich. Aber Marga schnitt dem Wächter mit einer Bewegung das Wort ab und befahl ihm, das Bild abzunehmen. Vater Robertus klemmte sich das Gemälde unter den Arm und zog zufrieden von dannen. Zum Test stellte Marga eine Vase mit Lilien auf. Am nächsten Tag waren sie nicht verwelkt. Das war der Beweis! Alles war wieder in Ordnung. Marga nahm sich vor, in Zukunft vorsichtiger zu sein, mit dem, was sie kaufte.

Zwei Tage später rief der Besitzer der Rahmenwerkstatt aus Edinburgh an. Er sagte, er habe den betreffenden Eintrag in ihren Büchern wiedergefunden. Sein Großvater hatte den mit echtem Blattgold belegten Rahmen persönlich gemacht. Der Rahmen allein war schon weitaus mehr als 28 Francs wert, dachte Jean bei sich. Auf die Frage, wer der Maler sei und wen das Gemälde darstelle. Sagte der Schotte: „Das Gemälde stellt Claire Clairon dar, eine Schauspielerin aus dem 18. Jahrhundert. Es wurde von Adélaïde Labille-Guiard gemalt oder in der gleichen Zeit von einer Schülerin der Guiard. “ Das könne er nicht genauer sagen, weder was den Maler noch was die genaue Datierung angehe. Man müsse das Bild schon einem Fachmann zeigen. Jean dankte dem Mann und machte sich kundig, was Claire Clairon und Adélaïde Labille-Guiard anging. Claire Clairon war wirklich eine Ehebrecherin gewesen, aber sie hatte bestimmt niemanden ermordet und die Mätresse eines Markgrafs zu sein, war zu ihrer Zeit nicht ungewöhnlich, nicht einmal anstößig. Es war ein mehr oder weniger normaler Job und die Clairon bekam dafür ein normales Gehalt. Aber selbst wenn das Gemälde nur von einer Schülerin der Guiard gemalt wäre, hätte es immer noch einige Tausende Francs einbringen können. Tausende! Die jetzt in der Hand eines betrügerischen Exorzisten waren, der vielleicht nicht einmal wusste, was er da abgegriffen hatte. Was sollte Jean nur machen? Marga würde ihm das niemals verzeihen. Er wäre hinterher an allem schuld. Also sagte er ihr nichts davon. Sie fragte auch nicht. Sie sprachen nie wieder über das Bild.

Die Fotos sind wieder einmal von mir.

Adélaïde Labille-Guiard hat es wirklich gegeben. Claire Clairon natürlich auch.

Leben mit Marga 7

Bob

Wenn wir etwas über Bob erfahren wollen, müssen wir in der Zeit zurückgehen.

Eine sehr junge, schöne Marga, die wie Elizabeth Taylor aussah, nur mit längeren Haaren, die wild um ihren Kopf herum wallten, machte in Australien ihren Schulabschluss. Sie wollte studieren. Bis zum Beginn des Studiums machte sie einen Ferienjob. Sie heuerte bei einer Reisegesellschaft auf einem Flusskreuzfahrtschiff als Stubenmädchen an. „Naturwunder Australiens“ hieß die Tour, die in Sydney begann und in Broome endete. Margas Aufgabe war es, wenn die Touristen an Land waren und natürlich nach der Fahrt in den Kabinen aufzuräumen. Marga hatte eine Kollegin, die sehr fleißig war und Marga gelang es, die Kollegin dazu zu bringen, dass sie ihre Aufgaben mit übernahm. Immerhin lernte Marga Handtücher ordentlich zu falten und da war sie später ihr ganzes Leben lang sehr stolz drauf.

Während dieser 21 Tage langen Reisen lernte sie Bob kennen. Bob hieß eigentlich Bodo Bichler und war Künstler. Er kam aus Wien, hielt sich aber für einen Weltbürger. Bob war sein Künstlername. Er verdiente inzwischen ziemlich gut mit seinen Gemälden von Tieren, Pflanzen und Leuten im Stil des 18. Jahrhunderts. Er hatte an der Akademie der bildenden Künste in Wien studiert. Als er mit seinem Abschluss nichts wurde (so drückte es seine Mutter damals aus), hatten seine Eltern ihm einen Kurs an der privaten Academy of Art in Florenz gegönnt. Ist doch gut, wenn man reiche Eltern hat. Man hat ja gesehen, was mit Leuten passiert, die von der Kunsthochschule abgelehnt werden. Bob wollte die Welt jedenfalls nur mit seiner Kunst erobern.

In Australien erforschte er die Kunst der Aborigines, malte aber hauptsächlich Porträts. Auf dem Schiff malte er Marga im Stil des 18. Jahrhunderts (darauf ist die private Akademie der bildenden Künste in Florenz nämlich spezialisiert). Als Marga ihr erstes Porträt sah, war für sie klar, dass sie schön war und dass das 18. Jahrhundert genau ihr Ding war. Ein paar dieser Porträts hingen später in ihrem Schloss. Auf einem Bild hielt Marga einen Mops unter dem einen Arm, während sie den anderen Arm auf einem verzierten Stock mit Silberknauf vorstreckte. Das Kinn hochgereckt, schaute sie über eine imaginäre Landschaft, die jedenfalls nicht nach Australien aussah. Marga trug auf dem Bild eine weinrote Samtjacke mit gestickten Applikationen. Ein anderes Bild zeigte sie mit einem großen, weißen Hut und einem lichten weißen Sommerkleid. In der einen Hand hielt sie einen Schäferstab, der mit bunten Bändern umwunden war. Zu ihren Füßen spielte ein Mops und Marga sah mit hochgerecktem Kinn über eine Weide mit grasenden weißen Ziegen hinweg. 18. Jahrhundert, Mops, Ziege, die Weichen waren gestellt.

Nach der Reise unternahmen Marga und Bob viel zusammen. Bob malte Marga oft und gerne. Er ging auch gerne mit ihr aus. Sie sah an seiner Seite gut aus. Bob kaufte Marga Kleider und Schmuck und Griselidis. Sie gingen zusammen in die Oper und ins Theater. Ansonsten war Bob aber nicht an ihr interessiert. Sie teilten ein Interesse für die Opernsänger.

Marga und Bob unternahmen Fahrten in den Outback mit einem gemieteten Lkw. Bob hoffte, Aborigines zu treffen, die er malen könnte. Die beiden fanden auf einer dieser Fahrten die verlassene Stadt Cossack. In den 1940ern hatten die Einwohner die Stadt aus wirtschaftlichen Gründen verlassen. Dabei hatten die Leute einige Einrichtungsgegenstände in den Häusern gelassen. Marga und Bob schraubten alles ab, was man abschrauben konnte, Türknäufe, Lampen und dergleichen. Sie stapelten außerdem Stühle und andere kleinere Möbelstücke auf ihren Pick-up. Für Bob war das Inspiration, das wilde Leben im australischen Outback. Für Marga war das Geld. Sie verkaufte die Gegenstände in der Stadt. Einmal fanden sie einen Friseurstuhl, der brachte 50 Australische Dollar ein. Marga wusste nun, dass man gutes Geld mit altem Zeug von anderen Leuten machen konnte. Bob hatte in Italien gelernt, wie man Marmormuster auf Gegenstände malen kann. Das sah täuschend echt aus. Er brachte diese Kunst Marga bei, die sich fortan rühmte, Gegenstände restaurieren zu können.

Bess has a stain on her dress
Frisch restauriert. Das ist natürlich gemein von mir, sowas zu behaupten. Hier hat vielmehr ein Handwerker mitgewirkt. Eigenes Bild von 2015.

Schließlich bekam Bob Heimweh nach Österreich. Er gab Marga zum Abschied etwas Geld und fuhr zurück nach Wien. Mit dem in Australien gesammelten Geld fuhr Marga nach Frankreich und eröffnete dort ihr Geschäft. Marga verkaufte Dekorationsgegenstände und Möbel. Dazu gehörten mit Marmormuster bemalte Grabvasen. Die Vasen sammelte Marga abends auf den Friedhöfen der Region. Ihre in China angefertigten Porzellanmöpse waren ein absoluter Verkaufsschlager. Marga bemalte Weichholzmöbel und bearbeitete sie danach mit Sandpapier. So verkauften sie sich viel besser. Wenn Marga beschädigte Gemälde kaufte, restaurierte sie immer selbst. Sie hoffte natürlich irgendwann ein verschollenes Meisterwerk zu finden. So wurde Marga reich und konnte sich ein schönes Schloss kaufen.

Château de Mont-Criquet
So ein Schloss zum Beispiel. Das ist aber nicht Margas Schloss. Das ist Château du Mont-Criquet in Saint-Victor-d’Épine. Eigenes Foto von 2019.

Marga und Jean-Pierre besuchten Bob einmal. Als sie in der Innenstadt von Wien herumliefen, musste Jean-Pierre auf die Toilette. Die Benutzung der öffentlichen Toilette kostete aber 20 Groschen und Jean-Pierre hatte gar kein Geld. Er musste sich das Geld von Bob leihen. Die Demütigung vergaß er nie.

Die anderen Folgen vom Leben mit Marga findet man hier: Den 6. Teil findet man hier: Reinkarnierte Hunde, den 5. Teil findet man hier: Jean-Pierres Wunsch geht in Erfüllung, den 4. Teil findet man hier: Griselidis, den 3. Teil findet man hier: Marga schreibt ein Buch, den 2. Teil findet man hier: Es hat Füße und den ersten Teil findet man hier: Voodoo.

Leben mit Marga 6

Reinkarnierte Hunde

Das ist diesmal leider eine traurige Geschichte. Ich will sie aber auch nicht auslassen, weil sie doch zu Margas Leben gehört.

Als Jean-Pierre seine Walther PPK auf Marga richtete und herumbrüllte, war Marga so vernünftig, ihm keine weiteren Vorwürfe zu machen. Ein seltenes Ereignis. Marga hob Highheels, den kleinen Mops hoch. Highheels (sprich: „Ei-Iels“) schaute Jean-Pierre mit großen, dunklen, feuchten und angstgeweiteten Augen an, da konnte Jean-Pierre natürlich nicht schießen. Er ließ die Waffe sinken, ging an seine Sockenschublade und trank die dort versteckte Flasche Bier in einem Zug aus. Dann rannte er aus dem Schloss, sprang in den Wagen und fuhr ziellos in der Gegend herum. Er musste aber zurückkehren, bevor er tanken musste, denn soviel Geld hatte er nicht mehr.

Marga und Jean-Pierre sprachen danach nie wieder über dieses Ereignis. Leider bekam Highheels kurz darauf Anämie und siechte dahin. Vielleicht war es doch nicht gut gewesen, sie ausschließlich mit gewürztem Putenrollbraten zu füttern.

Auf Highheels Beerdigung spielte ein Streichquartett Mozarts Requiem in d-Moll (KV 626). Es war alles sehr bewegend. Es war Ende Oktober und der Wind fegte gelbe Blätter von den Bäumen. Marga hatte schon immer gewusst, dass gelb Tod bedeutet. Sie hing ihren Gedanken nach. Highheels Tod war bestimmt Jean-Pierres Schuld. Jean-Pierre war ein Schlappschwanz. Wieso hatte sie ihn nur geheiratet? Bob war auch nicht besser gewesen, aber Bob hatte wenigstens einen ordentlichen Job gehabt. (Wir wissen immer noch nichts über ihre Beziehung zu Bob!) Marga wollte nicht an den kuschelig-dicken Opernsänger Peter Lanza denken. Tat es aber doch und prompt kamen ihr die Tränen. Der großzügig aufgetragene Kajalstift verlief. Damals, mit Griselidis war noch alles gut gewesen. Vielleicht konnte sie die Zeit zurückdrehen, sie musste nur die Reinkarnation von Griselidis finden. Jean-Pierre tupfte Margas Gesicht mit einem Taschentuch ab. Er stütze sie, während sie langsam den Tierfriedhof verließen.

Wo kauft eine moderne Frau einen Mops? Natürlich im Internet. In Marseille fand sie einen preiswerten Mopswelpen. Es gab aber nur männliche kleine Möpse bei dem Händler. Wahrscheinlich konnte man bei der Reinkarnation das Geschlecht wechseln, dachte Marga. Und nahm daher das Tier, das sie am ehesten an die Original-Griselidis erinnerte. Sie hätte den Mops gern nach dem Hund von Marie-Antoinette benannt, aber „Mops“ der Mops kam ihr dann doch zu blöd vor, also nannte sie den Hund „Pimperl“ nach Mozarts Hund. Marga liebte Mozart. Wenn seine Musik im Laden lief, verkaufte sie am meisten. Sie hatte es auch mit Vivaldi und Bach versucht, aber Mozart funktionierte am besten.

Schon nach ein paar Monaten wunderte sich Marga, dass Pimperl immer noch nicht gehorchte. Sie konnte den Mops rufen, so viel sie wollte, das Tier kam einfach nicht. Außerdem bellte der Hund. Sie hatte ihm mehrfach auseinandergesetzt, dass Mädchen nicht bellen. Der Hund wollte einfach nicht akzeptieren, dass er weiblich war. Nicht einmal nach der Kastration. Schließlich stellte der Tierarzt fest, dass Pimperl taub war. Wie unschön. Das erklärte zwar, warum Pimperl nicht gehorchte, machte ihn in Margas Augen aber noch unsympathischer. Das konnte nicht Griselidis sein. Griselidis hatte die Oper geliebt. Ein tauber Mops war eine Katastrophe.

Im Sommer stellte sich heraus, dass Pimperl allergisch auf Flohbisse reagierte. An manchen Stellen fielen ihm die Haare aus und er bekam nässende Entzündungsflecken am ganzen Körper. Daraufhin bekam Marga einen Nervenzusammenbruch und gab den Hund an die Wächter. Die Wächterin war eine treue Seele. Sie versuchte jedenfalls, Flöhe fernzuhalten und wenn ihr das auch nicht ganz gelang, so schien Pimperl bei ihr dennoch glücklich zu sein. Ihr war es egal, ob das Tier gehorchte, Hauptsache der Mops verletzte sich nicht. Die meiste Zeit lag Pimperl zufrieden im Wächterhäuschen auf dem Sofa.

Marga war das weitere Schicksal von Pimperl erstmal egal. Sie hatte jedenfalls nicht Griselidis gefunden, nur das war ihr wichtig. Wahrscheinlich war es nicht Griselidis gewesen, weil es gar keine Hündin war, sondern ein Hund. Das mit dem Geschlechtswechsel nach der Reinkarnation klappte wohl doch nicht. Marga kaufte also einen anderen Hund im Internet. Diesmal einen weiblichen Pekinesenwelpen. Die andere Rasse hatte den Vorteil, dass sie den Hund „Mops“ nennen konnte. Nach zwei Wochen sah sie aber ein, dass ein Pekinese kein Mops sein konnte. Die Hündin wurde einfach nicht stubenrein. Und sie wollte unbedingt spazieren gehen, andauernd. So oft konnte Marga Jean-Pierre nicht entbehren, der sich anhören musste, was sie der Welt Wichtiges mitzuteilen hatte. Also schenkte Marga den Pekinesen ebenfalls der Wächtersfrau, die sich sehr freute, umso mehr, da dieser Hund weder taub noch hautkrank war.

Marga reichte es jetzt. Die Reinkarnation von Griselidis musste sich doch finden lassen. Wieder wurde das Internet konsultiert, diesmal hatte der Züchter große Mengen von Mopswelpen. Riesige Auswahl in kleinen Hundezwingern unter der unbarmherzigen Sonne der Provence.

Eine kleine Hündin fiel Marga sofort ins Auge. Die Hündin hatte offensichtlich Angst vor ihr und versuchte, sich zu verstecken. Ideal. „Die nehm ich!“, rief Marga aus und kaufte den Mops. Diesmal ging sie keinerlei Risiko ein, denn sie nannte den Hund „Griselidis“. Wo Griselidis dran steht, muss doch auch Griselidis drin sein. Die Hündin wurde zwar auch nicht stubenrein, aber das war egal. Jean-Pierre machte die „Ausrutscher“ heimlich weg. Und als die Wächterin sich einmal beschwerte, dass die Hündin ins Schloss gemacht hatte, da beschimpfte Jean-Pierre die Frau als „fett“ und Marga drohte damit, ihr Mops, den Pekinesen, wegzunehmen.

Als die Wächter ein paar Tage darauf zusammen einkaufen fuhren, gingen Marga und Jean-Pierre in das Wächterhäuschen, um nach dem Rechten zu sehen. Da sah Marga Pimperl auf dem Sofa liegen und schlafen. Pimperl hatte kein schönes Fell, er war dick und er schnarchte. Er lag da, wie eine Karikatur von Griselidis. Hilflos und hässlich. Da ergriff Marga eine grenzenlose Wut auf die Wächterin. Alles war ihre Schuld! Marga befahl Jean-Pierre, Pimperl zu erschießen.

Also nahm Jean-Pierre Pimperl und trug ihn in ein hinteres Eckchen des Grundstücks. Der Hund erkannte Jean-Pierres Geruch und hechelte erfreut. Er erwartete Leckerchen und Streicheleinheiten. Jean-Pierre erschoss ihn und glaubte, damit das Beste für den Hund – und vor allem für sich selbst – getan zu haben. Jean-Pierre hatte keine Wahl, Marga würde eine Einschläferung nie bezahlen. Dann buddelte der Mann ein Loch, was sich schwieriger gestaltete, als er gedacht hatte. Der Boden war voller Steine. Jean-Pierre warf den Hund in die flache Mulde und bedeckte den kleinen Körper mit einer dünnen Schicht Erde. Da würde Griselidis später ein Grabungsprojekt starten.

Als die Wächter vom Einkaufen zurückkamen, teilte ihnen Jean-Pierre mit, dass sie gekündigt seien. Mops, den Pekinesen, könnten sie mitnehmen. Auf die entsetzten Fragen der Wächter, warum und wieso und wo denn Pimperl sei, gab Jean-Pierre keine Antwort. Stattdessen fuchtelte er mit der Walther herum. Die Wächter erinnerten sich, dass Marga ihnen erzählt hatte, dass Jean-Pierre verrückt sei. Es grauste ihnen. Sie packten eilends ihre Sachen zusammen, schnappten Mops und fuhren weg, als sei der Teufel hinter ihnen her. Wächter gab es wie Sand am Strand, das wusste Jean-Pierre am besten.

Researchers
Meine Hunde starten ein Grabungsprojekt. Eigenes Foto von 2015. Wir hätten die Leiche gleich gefunden. Bach, Rudi und Phex haben damals ja auch die Leichen der Schafböcke gefunden, die der englische Handwerker nur knapp unter der Grasnarbe verscharrt hatte. Das war auch nicht lustig gewesen. Außer vielleicht für die Hunde.

Das tut mir ja irgendwie leid, das es diesmal nicht lustig war. Ich hab daher vorgelesen in der Geschichte (also nicht laut, sondern in der Zeit nach vorn) und festgestellt, dass es irgendwann wieder lustig wird. Also nicht verzagen. Vielleicht meint das Schicksal es ja irgendwann besser mit Jean-Pierre. Nach dieser Story ist er mir allerdings immer ein bisschen egaler.

Die anderen Folgen vom Leben mit Marga findet man hier: Den 7. Teil findet man hier: Bob, den 5. Teil findet man hier: Jean-Pierres Wunsch geht in Erfüllung, den 4. Teil findet man hier: Griselidis, den 3. Teil findet man hier: Marga schreibt ein Buch, den 2. Teil findet man hier: Es hat Füße und den ersten Teil findet man hier: Voodoo.