Heute ist der Eingang an der Südseite. Das Dorf liegt im Westen, deshalb war der ursprüngliche Eingang im Westen. Die Straße hat direkt zum Vorhof geführt. Der Vorhof war von vier Gebäuden flankiert, die im Stil Louis XIII (1601-1643) im 17. Jahrhundert erbaut worden sind.
Das rechte vordere Gebäude war ursprünglich eine Kapelle, an der man heute noch Pilgerzeichen sieht. Im 20. Jahrhundert wohnte dort eine Familie namens Platevoet, die drei der Gebäude auf dem Vorhof nutzte. Sie waren Bauern und waren aus Belgien eingewandert und wohnte bis zum Ende der 1960er Jahre auf dem Gelände. Ich hab einige Verwandte von ihnen selbst kennengelernt. Zu meiner Zeit schliefen die Schafe in dem Gebäude. Der Fußboden war teilweise ausgeschachtet. Man konnte noch einen Kamin sehen und elektrische Kabel. In manchen der Fenster waren noch Glasscheiben eingesetzt. Der Zustand der Balken unter dem Dach war okay. Da man dieses Gebäude von der Straße aus sehen kann, kamen oft Anfragen von Leuten, die es gern kaufen wollten.
Pilgerzeichen sind Symbole, die Pilger hier in der Gegend seit dem Mittelalter und bis ins 19. Jahrhundert in die Außenmauern von Kirchen und Kapellen eingeritzt haben. Solche Zeichen gab es im Mittelalter in allen katholischen Pilgerstätten, hier gab es sie noch in den folgenden Jahrhunderten. Es wird hier immer noch gepilgert, aber jetzt ritzt niemand mehr in Kirchenmauern. Man steckt jetzt meistens Papierchen mit Gebeten hinter oder unter Statuen.
Eingeritzt wurden früher Kreuze, Kreise mit innerem Muster, Tiere und Boote. Damit wollte der Pilger den Segen Gottes erbitten, für Bootsfahrten, Tierzucht oder Jagdglück und er erhoffte sich Schutz vor dem Bösen. Diese Symbole wurden mit Nägeln oder Messern eingeritzt. In den tieferen Löchern rieben die Pilger Staub heraus, den sie als segensreich betrachteten.


Das linke vordere Gebäude auf dem Vorhof war die Conciergerie, das heißt, da haben irgendwelche Wächter oder/und Bedienstete gewohnt. Das Gebäude konnten die Amerikaner in den 1980ern nicht kaufen. Dort wohnte eine belgische Familie. Die belgische Frau, die zu meiner Zeit in dem Gebäude wohnte, war im Alter von 14 Jahren nach Frankreich gekommen. Damals kamen viele Belgier nach Eure. Sie hatte offiziell eine Tätigkeit als Bäuerin angemeldet. Die Frau starb vor wenigen Jahren. Ich hab ihren Grabstein auf dem Friedhof von Morsan gesehen, hab aber vergessen, wann sie gestorben ist und finde kein Foto davon. Jedenfalls haben die Amerikaner, gleich nachdem sie vom Tod der Nachbarin erfahren haben, versucht das Haus zu kaufen. Es war ihnen aber zu teuer. Da wollte es jemand anders kaufen. Daraufhin wollten sie es doch unbedingt haben und kauften es für viel mehr Geld als sie zuerst hätten bezahlen müssen. Sie wollen das Haus zu einem Ferienhaus umbauen. Bisher ist aber noch nichts passiert. Natürlich sieht das Haus nicht mehr wie im 17. Jahrhundert aus.
Das hintere rechte Gebäude auf dem Vorhof war ursprünglich ein Pferdestall gewesen. Zu meiner Zeit behandelte ich die Schafe dort gegen Würmer und ließ sie dort scheren. Wenn ein Schaf krank war, sperrte ich es in eine Pferdebox und rief dann den Tierarzt. Gefüttert habe ich sie dort nur am Anfang. Die Raufenkonstruktion des englischen Handwerkers fiel 2003 herunter und erschlug eins meiner Schafe. Daraufhin kaufte ich eine richtige Raufe aus Metall für draußen. In dem ehemaligen Pferdestall lagerte ich außerdem das Stroh für die Streu. Die Amerikaner lagerten im vorderen Teil Plastiksäcke mit Schafwolle aus den 1980ern und 1990ern.
Im hinteren linken Gebäude standen ursprünglich die Karossen, vor die man die Pferde anspannte, wenn die Adligen irgendwohin wollten. Die Belgier, die in der alten Kapelle wohnten, hatten das Gebäude wohl als Kuhstall genutzt. Die Amerikaner haben einen Teil des Gebäudes abgesichert und mit einer versteckten Metalltür versehen. Der Rest dient als Lager für Krempel. Zu meiner Zeit wohnte eine Schleiereule in dem Gebäude.
Der Vorhof selbst war zu meiner Zeit eine Weide, die im Sommer nur abends genutzt wurde. Morgens holte ich die Schafe in den Park und abends ließ ich sie auf den Vorhof. Heute ist es immer noch eine Rasenfläche. Auf der Rasenfläche gibt es Marnières, das sind Mergelgruben, die hauptsächlich im 18. und 19. Jahrhundert angelegt wurden. Im Ancien Régime (vor der Französischen Revolution) sah der Vorhof bestimmt anders aus. Der Vorhof muss zugleich als Ehrenhof genutzt worden sein. Nun weiß ich nicht, wie viele Truppen die Le Sens (oder die Desens) de Morsan hatten. Philémon, der Gouverneur von Bernay, muss Truppen gehabt haben. Ob diese Truppen in Morsan oder in Bernay exerziert haben, kann ich nur vermuten und da würde ich annehmen, dass sie das in Bernay taten. Aber wissen kann ich es nicht.
Hinter diesem Vorhof ist ein Tor und ein Weg, über den eine Kutsche passen würde. Der Weg führt über zwei ummauerte Gräben. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass da jemals eine Zugbrücke war, denn der Weg ist solide und mit den gleichen Steinen eingefasst, mit denen die Gräben eingefasst sind. Die Konstruktionen sehen auch nicht so aus, als sei jemals Wasser im Graben gewesen.
Rechts und links von den Gräben stehen Türme. Das Alter der Türme ist schwer zu bestimmen. Sie sehen aber nicht älter aus, als alles andere, sondern scheinen aus dem gleichen Sandstein gebaut zu sein, aus dem das Schloss ist. In der untersten Etage wurde Feuerstein verbaut. Das ist auch nicht sehr hilfreich. Feuerstein gibt es hier en masse auf den Äckern und er wurde in allen Jahrhunderten zum Bau benutzt. Es gab ihn ja umsonst überall herumliegen. Nehmen wir an, dass die Türme gleichzeitig mit dem Schloss gebaut wurden. Der Sandstein legt das auch nahe. Auf den Türmen stehen Turmspitzen aus Blei, die eine Kapsel enthalten, auf das Datum steht, wann sie aufgestellt wurden. Natürlich habe ich die Turmspitzen nicht heruntergeholt und nachgeschaut.
Möglich ist, dass Philémon Le Sens, der erst im späten 16. Jahrhundert geadelt wurde, die Güte seiner Familie und seines Adelsrechts dadurch demonstrieren wollte, dass er die Türme und die Gräben als Zeichen hat bauen lassen, dass dort vielleicht auch schon im Mittelalter eine Burg gestanden hat. Im Mittelalter war seine Familie nicht adelig und kann dort keine Burg besessen haben und auch sonst ist von einer mittelalterlichen Burg dort nichts bekannt. Natürlich hätte ich gerne Grabungen veranstaltet oder veranstalten lassen, das geht schlecht, wenn man nur eine Art Magd-Gärtner-Hirte-Köchin-Sekretärin-Fremdenführerin-Kombination ist. Es gibt einen alten Brunnen, in den ich mich nicht hinuntergewagt habe, denn ich hab Arachnophobie und ich war generell einfach zu feige. Die Besitzer bestehen darauf, dass das Schloss vormals eine Burg gewesen ist, die im Jahr 1000 erbaut wurde, denn mit weniger Nullen geben wir uns ja nicht ab.
Im Ancien Régime waren die Adligen von Steuern befreit. Dafür mussten sie im Ernstfall ihre Truppen zur Verfügung stellen. Der Ernstfall trat aber nur selten ein, während der Steuererlass und verschiedene Rechte, die gutes Geld einbrachten, ganzjährig bestanden. Viele Familien erfanden mythische Vorfahren, die nur mit einem Vornamen benamst waren und natürlich an der Seite von Wilhelm dem Eroberer gekämpft haben. Beweisen konnte man so etwas nicht, aber man konnte auch nicht das Gegenteil beweisen. Ich denke da zum Beispiel an die Harcourts.
„Adelsbetrug“ war dermaßen üblich, dass Louis XIV (1638-1715) einen Beamten durchs Land geschickt hat, der untersucht hat, ob die angeblichen Adeligen überhaupt einen Adelssitz hatten und wenn ja, von wem sie den hatten. Wenn sie einen fälschlich erworbenen oder gar keinen Adelssitz hatten, wurde ihnen der Titel aberkannt und sie mussten hohe Strafen zahlen.
Das ursprüngliche von Philémon erbaute Schloss war einfach aufgebaut, ein Rechteck, was einen der Autoren über die hiesigen Herrenhäuser und Schlösser dazu veranlasst hatte, zu behaupten, das Gebäude sei an sich nur ein Pavillon und gehöre zu einem größeren zerstörten Gebäude. Wahr ist, dass das Schloss nicht komplett mittig steht, aber fast mittig. Daher kann es kein Pavillon eines größeren Schlosses gewesen sein. Es könnte aber die Hälfte eines größeren Schlosses gewesen sein. Das werden wir wahrscheinlich nie erfahren.
Im Süden und Norden wurden 1750 halbrunde Pavillons angebaut, so nennt man bei Schlössern Gebäudeteile, die am Schloss mit dran sind. Es gibt auch bei Schlössern einzelnstehende Gebäude, die Pavillon genannt werden, aber hier handelt es sich jedenfalls um Anbauten. Der Pavillon im Süden ist schön dekoriert und davor ist ein Wasserbecken, an dem die Skulptur eines Pan hockt. Der nördliche Pavillon wurde bis 1827 nicht vollendet. Warum ausgerechnet bis zu dieser Jahreszahl, weiß ich nicht mehr. Das bedeutet jedenfalls, dass der Nordpavillon nicht dekoriert ist und nach nichts aussieht. Dekoriert wurden im Zuge dieser Umbaumaßnahmen auch die beiden anderen Seiten des Schlosses. Im Westen ist die Fassade aber durch den Wind vom Meer abgeschliffen worden.
Die älteren Teile des Schlosses, die Gräben und Türme sowie der Hauptbau ohne die Pavillons sind alle im Stil von Henri IV (1553-1610) gebaut, sagt eine meiner Quellen. Der Riesenvorhof ist aber wohl erst zwischen 1650 und 1750 entstanden.
An der Nordseite gibt es ein zugemauertes Fenster. Angeblich wegen der Fenstersteuer, die es ab dem 24. November 1798 (4. Frimaire VII nach Revolutionszeitrechnung) bis 1926 gab. Danach mussten die Besitzer von Häusern Steuern auf alle Türen und Fenster zahlen. Das Schloss hat aber noch genügend Fenster und ich weiß nicht, ob dieses eine Fenster einen großen Unterschied macht. Vielleicht hat es aber auch mit der Zündelei der Preußen im Krieg 1870/71 zu tun. Die einen sagen so, die anderen sagen so. Im Schloss gab es danach jedenfalls eine Wendeltreppe statt einer geraden Treppe. Und es gab ein neues Parkett. Eine gerade Treppe verbraucht mehr Platz und wäre zum Beispiel dort verlaufen, wo es heute im 1. Stock (oder „halbten“ Stock) ein Badezimmer gibt, das heute nur von der Wendeltreppe aus zugänglich ist.


Ob es der letzte Marquis von Morsan war, weiß ich nicht, aber jemand legte einen kleinen Friedhof für seine Hunde an.
Im 19. Jahrhundert wurde der Park angelegt. 1802 kaufte Louis-Gervais Delamarre das Schloss von Harcourt und richtete dort ein Arboretum ein. Es geht die Sage, dass Herr Delamarre mit dem damaligen Marquis de Morsan bekannt war und ihm Baumsamen für den Park gegeben hat. Weiter im Süden des Grundstücks in Morsan, auf der Wiese vor der Straße, wurden Apfelbäume gepflanzt. Zwischen Park und Apfelbaumwiese stand ein Halbkreis aus Bäumen.


Die bösen Deutschen haben im Zweiten Weltkrieg (1938-1945) ein paar Betonkonstruktionen gebaut, wo sie ihre Fahrzeuge vor Flugzeugen versteckt haben. Die Nachkriegsfamilien haben das z. B. genutzt, um Kaninchen zu züchten, Holz zu lagern usw. Ein unterirdischer Gang, der vom Schloss aus in einen der Gräben geführt hat, wurde zugemacht.
Als die Amerikaner in den 1980ern das Schloss kauften, war es praktisch unmöbliert und eine einzige Baustelle. Sie haben sehr viel verändert. Zum Beispiel gab es im 2. Stock keine Toilette, dafür aber ein Bidet. Jetzt gibt es eine Toilette und kein Bidet. Die Amerikaner bauten Ölheizung ein, verstellten bei einigen Räumen die Zugangstüren und Geheimgänge, ließen einen neuen Sicherungskasten einbauen, behielten aber einige der alten Steckdosen ohne Erde. Sie öffneten den Fußboden im Erdgeschoss an der Nordostecke und bauten eine kleine Wendeltreppe in den Keller ein. Die originale Holzvertäfelung gab es nur noch im großen Salon im Erdgeschoss. Im Keller sind noch der alte Brotofen und die Feuerstelle erhalten. Die meisten der offenen Kamine, die heute im Schloss sind, sind entweder Fake oder der Rauchabzug funktioniert nicht.
Ich hab Fotos vom Inneren der Conciergerie. Das sind aber „lost place“-Fotos, daher poste ich die hier nicht mit. Außerdem habe ich Fotos und Video von der Einrichtung des Schlosses. Das poste ich vielleicht irgendwann, wenn das Schloss wider erwarten doch verkauft wird.
Fotos und Text sind von mir, der Katasterauszug ist natürlich vom Katasteramt.
Mehr zu alten Kirchengraffitis beziehungsweise Ritzzeichnungen findet man zum Beispiel hier (auf Englisch): Letter from England – medieval church graffiti und hier: https://rakinglight.co.uk/ und hier: Church of the Holy Sepulchre’s mysterious ‘graffiti’ crosses may not be what they seem
Ich hab auch selbst mal einen Artikel geschrieben, der ist aber nicht sehr gut und ich weiß inzwischen mehr über die Sache: Zeichen gegen den Bösen Blick
Eine wichtige Quelle auf Französisch war das Buch Gentilhommières des Pays de l’Eure von Franck Beaumont und Philippe Seydoux S. 297-299 Verlag Éditions de la Morande 1999 ISBN: 2902091312 steht falsch so im Buch, eigentlich muss die ISBN: 2902091311 sein.
Das Schloss und seine Bewohner habe ich bald nach meiner Ankunft zu einer kleinen Geschichte verwurstet, in der meine Hunde die menschliche Hauptrolle spielen: Brief an Herrn Lothar